Saemtliche Werke von Jean Paul
meinem größten Vergnügen Laune und das Talent, alle Seiten einer Sache zu beschauen, so geschickt von Schmeichelei und Skeptizismus unterscheidet. Klotilde hatte langsam den Kopf zum letzten Satze geschüttelt. Überhaupt stritten heute alle für und wider ihn in jenem teilnehmenden Tone, den Weiber und Verwandte allemal gegen einen Fremden annehmen, wenn sie eine Stunde vorher den nämlichen Prozeß, aber zu praktischer Anwendung, mit den Ihrigen geführet hatten.
Viktor, der schon lange besorgte, verlegen zu werden, ging endlich dahin, wohin er bisher so oft geschauet hatte – zum Schach, das man mit der größten Begierde, zu – verlieren, spielte. Der Kammerherr – wir wissen alle, wie er war: er schrieb nichts als Belobschreiben für die ganze Welt, und der Abendmahlkelch wäre mehr für seinen Geschmack gewesen, hätt’ er daraus auf eines wichtigen Mannes Gesundheit toasten können – dieser beförderte, so gut er konnte, mit den dürren Schachstatuen bloß das fremde Wohl auf Kosten des eignen: gern verlor er, falls nur Matthieu gewann. Noch dazu glich er jenen verschämten Seelen, die ihre Wohltaten gern verborgen geben, und er konnt’ es nicht über sich erhalten, es seinem Schach-Gegner zu sagen, daß er ihm den Sieg zuschanze; er hatte fast größere Mühe, sich zu verbergen wie ein Hofmann, als sich selber zu besiegen wie ein Christ. Eine solche Liebe hätte, wie es scheint, wärmer vergolten werden sollen als durch offenbare Bosheit; aber Matz hatte das nämliche vor und wich dem Siege, den jener ihm nachtrug, wie ein wahrer Spitzbube aus. Le Baut ersann sich vergeblich die besten Züge, womit man sich selber matt macht – Matz setzte noch bessere entgegen und drohte jede Minute, auch zu ermatten. Uns alle dauert der auf dem Schachboden herumgehetzte Kammerherr, der wie eine Kokette besorgt, nicht besiegt zu werden. Es war für ein weiches Auge, das doch dem Schwachen lieber als dem Schelm vergibt, nicht mehr auszuhalten: Viktor trat unter tausend Entschuldigungen gegen den Schwachen und voll Bosheit gegen den Boshaften in die Heckjagd ein und nötigte den Hofjunker, seinen Rat und seine Karitativsubsidien anzunehmen und zu vorgeschlagenen Kriegsoperationen von solchem Wert zu greifen, daß der Mann mit dem Amte der kammerherrlichen Schlüssel endlich trotz seinen Befürchtungen und trotz den schlimmsten Aussichten – verlor. Alle Anwesende errieten alle Anwesende, wie Fürsten einander in ihren öffentlichen – Komödienzetteln.
Er hatte endlich die Abschiedaudienz, aber geringen Trost. Die Gestalt, unter der alle seine Schönheitideale nur als Schildhalter und Karyatiden standen, war noch kälter als bei dem Empfange und immer bloß das Echo der elterlichen Höflichkeit. Das einzige, was ihn noch aufrecht erhielt und beruhigte, war eine – Distel, nämlich eine optische, auf den musivischen Fußboden gesäete. Er nahm nämlich wahr, daß Klotilde diesem Blumenstück, das sie doch kennen mußte, unter dem Abschiede mit dem Fuße auswich, als wär’ es das Urbild. Abends macht’ er seine Schlußketten, wie sie auf Universitäten gelehret werden – dieser Vexierdistel impfte er alle Rosen seines Schicksals ein – »zerstreut war sie doch, und weswegen? frag’ ich«, sagt’ er ins Kopfkissen hinein – »denn erraten haben sie mich drüben ohnehin noch nicht«, behauptete er, indem er sich aufs zweite Kopfkissen legte – »o du holdes Auge, das auf die Distel sank, geh in meinem Schlafe wieder auf und sei der Mond meiner Träume«, sagte er, da er schon halb in beiden war. – Er glaubte bloß aus Bescheidenheit, er werde nicht erraten, weil er sich nicht für merkwürdig genug ansah, um bemerkt zu werden. –
Der 20. August 179* war der große Tag, wo er abmarschierte nach Flachsenfingen: Flamin war schon um vier Uhr abends fortgetrabt, um keinen Abschied zu nehmen, welches er haßte. Aber unser Viktor nahm gern Abschied und zitterte gern im letzten Verstummen der Trennung: »O ihr dürftigen egoistischen Menschen!« (sagt’ er) »dieses Polarleben ist ohnehin so kahl und kalt, wir stehen ohnehin Wochen und Jahre nebeneinander, ohne mit dem Herzen etwas Besseres zu bewegen als unser Blut – bloß ein paar glühende Augenblicke zischen und erlöschen auf dem Eisfeld des Lebens – warum meidet ihr doch alles, was euch aus der Alltäglichkeit zieht, und was euch erinnert, wie man liebt – – Nein! und wenn ich zugrunde ginge, und wenn ich mich nachher nicht mehr trösten
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