Sag mir, wo die Mädchen sind
glaube auch, dass sie möglicherweise in Gefahr ist. Von meinen Idealen ist noch ein bisschen was übrig, aber naiv bin ich nicht. Ich …»
Sekundenlang war ich versucht, Vala von meinen Erlebnissen zu erzählen, von den Situationen, in denen ich um Haaresbreite dem Tod entgangen war, von Ströms Selbstmord, von dem Grund, weshalb ich die Espooer Polizei verlassen hatte, doch zum Glück war ich klug genug, den Mund zu halten. Weder wollte ich Lauri Vala zu meinem Verbündeten machen, noch war ich die Frau, die ihm Trost schenken konnte. Allerdings ließ er sich erst zum Aufbruch bewegen, nachdem ich ihm versprochen hatte, ihn zu informieren, wenn die Befragung von Azizas Angehörigen neue Erkenntnisse brachte. Dabei musste Vala eigentlich wissen, dass ich ihm aufbinden konnte, was ich wollte. Er hatte keine offizielle Funktion bei der Polizei und keinerlei Anspruch auf Zusammenarbeit. Vielleicht glaubte er, die gemeinsame Erfahrung auf der Straße von Dschalalabad verbinde uns und verpflichte mich ihm gegenüber.
«Als ich zum ersten Mal die roten Mohnfelder sah, dachte ich, was für ein himmlischer Anblick. Aber wegen dieser Blumen werden Menschen abgeschlachtet. Ich hätte dir gern Mohnblumen mitgebracht, aber die gibt es um diese Jahreszeit in Finnland nicht zu kaufen. Scheiße, wir setzen unser Leben ein, um das Eigentum von Rauschgifthändlern zu schützen. Das ist doch hirnrissig!»
Im Herbst hatte der Mohn in Afghanistan nicht mehr geblüht, aber in der Nähe der Polizeischule war Safran gesät worden. Man wollte den Opiumbauern dessen Anbau schmackhaft machen. Ulrike hatte eine Blüte abgepflückt und in ihr Notizbuch gelegt, wo die Gewürzpflanze einen gelben Fleck hinterlassen hatte. Da ich mich von Vala nicht weiter in seine düstere Stimmung hineinziehen lassen wollte, erklärte ich kurzerhand, ich müsse jetzt nach Hause. Wir verließen den Ermittlungsraum. Auf dem Weg nach unten merkte Vala plötzlich, dass ich die Rose vergessen hatte.
«Geh sie holen. Es bringt Unglück, ein gut gemeintes Geschenk zu vergessen.»
Ich wusste nicht, woher er diese Weisheit hatte und ob er es wirklich gut mit mir meinte, versprach aber, noch einmal zurückzugehen und die Blume zu holen, nachdem ich ihn zum Ausgang gebracht hatte. Dort schlang er plötzlich die Arme um mich. Er hielt mich länger umarmt, als es beim Abschied üblich war, und ich überlegte gerade, ob ich ihm das Knie in die Weichteile rammen sollte, als er mich ebenso unvermittelt losließ.
«Jedes auf Wiedersehen kann ein Lebewohl für immer sein. Pass auf dich auf, Kallio.»
Ich brannte keineswegs darauf, Vala noch einmal wiederzusehen. Die Rose holte ich dennoch. Die Blume kann ja nichts dafür, dass ausgerechnet Vala sie für mich gekauft hat, rechtfertigte ich mich vor mir selbst, als ich mit der Zellophanpackung nach Hause ging. Dort behauptete ich, zum Tag der Frau hätten alle Frauen im Präsidium eine Rose bekommen.
Am nächsten Tag machte ich mich mit Koivu auf, um der Familie von Aziza Abdi Hasan einen Besuch abzustatten. Sie wohnte in derselben Siedlung wie die Wang-Koivus, die beiden Familien hatten gemeinsame Bekannte. Da Azizas Angehörige weder auf Anrufe noch auf SMS reagiert hatten, versuchten wir es nun an der Tür. Niemand öffnete.
Terrorismusverdacht wäre natürlich ein ausreichender Grund für einen Durchsuchungsbefehl gewesen, doch ich wollte genauer informiert sein, bevor ich das große Räderwerk in Gang setzte. In meinem Archiv fand ich die Kontaktdaten von Unteroffizier Jere Numminen und schickte ihm eine möglichst vage formulierte E-Mail. Darin ließ ich mich darüber aus, wie glimpflich wir bei dem Bombenanschlag davongekommen waren, berichtete, dass Ulrikes Mutter mir ein Schmuckstück ihrer Tochter geschickt hatte, und erkundigte mich beiläufig, wie es Major Vala wohl gehen mochte. Es war ein Schuss ins Blaue, denn ich hatte keine Ahnung, wie genau Numminen es mit der Schweigepflicht nahm.
Bei Aziza schien niemand zu Hause zu sein. Ich warf eine schriftliche Vorladung durch den Briefschlitz. Sara Amirs Schicksal hatte sich am Vortag ohne größere Dramatik geklärt. Als ihr die Fotos der bosnischen Polizei vorgelegt wurden, hatte Saras Mutter zugegeben, dass das Mädchen zu Verwandten nach Bosnien geschickt worden war.
«Dort ist es besser für sie», hatte die Frau gesagt, aber jede weitere Erklärung verweigert. Koivu hatte sich mit dem Jugendamt in Verbindung gesetzt, das den Fall nun übernehmen
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