Sagen des klassischen Altertums
vorhergesehen und daß ein warmes Bad für ihn bereitgehalten sei. Der König betrat ahnungslos das Badegewölbe seines Palastes, legte Panzer, Waffen und alle Gewande ab und bestieg wehrlos und entkleidet den Badebehälter. Da brachen Ägisth und Klytämnestra aus ihrem Verstecke hervor, warfen ihm ein festgewundenes Netz über den Leib und durchbohrten ihn mit wiederholten Dolchstichen.
Sein Hilferuf drang aus dem unterirdischen Gemache, wo die Bäder sich befanden, nicht hinauf in den obern Palast. Unmittelbar nachher ward Kassandra, die einsam durch die dunkeln Vorhallen des Königspalastes hin und her irrte, das Geschehende sah und in Rätselsprüchen verkündete, niedergemacht.
Sobald die doppelte Untat geschehen war, gedachten die Mörder, auf ihren Anhang vertrauend, sie nicht länger zu verbergen. Die beiden Leichname wurden im Palaste ausgestellt; Klytämnestra berief die Häupter der Stadt und sprach ohne Rückhalt und ohne Scheu: »Verarget mir, Freunde, meine bisherige Verstellung nicht. Ich habe dem Todfeinde meines Hauses, dem Mörder meines geliebtesten Kindes, seine Blutschuld nicht anders bezahlen können; ja ich habe ihn ins Netz gelockt, wie einen Fisch habe ich ihn gefangen; mit drei Dolchstichen, im Namen des unterirdischen Pluton geführt, habe ich meine Tochter gerächt. Es ist Agamemnon, mein Gatte, von meiner eigenen Hand umgebracht; ich leugne es nicht. Hat er doch, als handelte es sich um den Tod eines Schlachtviehes, sein eigenes Kind, mir das liebste, geopfert, um mit meinem Mutterschmerze die thrakischen Winde zu besänftigen. Verdiente ein solcher Frevler zu leben, verdiente er ein so schönes, ein so frommes Land zu beherrschen? Ist's nicht gerechter, daß Ägisth euch befehle, der keinen Kindermord auf dem Gewissen hat, der in Atreus und im Atriden nur Erbfeinde seines Vaters gerächt hat? Ja es ist billig, daß ich ihm die Hand reiche, daß ich Palast und Thron mit ihm teile, der das Werk der beleidigten Mutterliebe, das Werk der Gerechtigkeit mir vollbringen half. Er ist ein Schild meiner Kühnheit; solang er und sein Anhang mich beschützt, wird niemand es wagen, mich wegen meiner Tat zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Was jene Sklavin betrifft« – mit diesen Worten deutete sie auf Kassandras Leichnam –, »so war sie die Buhlerin des Treulosen; sie hat die Strafe des Ehebruchs erlitten und soll den Hunden zum Zerfleischen vorgeworfen werden.«
Die Häupter der Stadt blieben auf diese Rede stumm. An Gegenwehr war nicht zu denken: die Bewaffneten des Ägisth umgaben den Palast; Waffengeklirr ertönte, und drohende Laute ließen sich hören.
Die Krieger Agamemnons, deren eine weit kleinere Schar aus dem männervertilgenden Kampfe von Troja 257
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
heimgekehrt war, hatten sich in der Stadt zerstreut und sorglos die Waffen von sich gelegt. Der wilde Anhang des Ägisth durchzog Mykene in voller Rüstung und metzelte jeden nieder, der gegen den gräßlichen Mord seines Fürsten sich auflehnte.
Die Frevler versäumten auch nichts, ihre Herrschaft zu befestigen. Alle Ehrenstellen, alle Kriegsämter wurden unter ihre treuesten Anhänger verteilt. Die Töchter Agamemnons betrachteten sie als gefahrlose Weiber; aber zu spät fiel ihnen ein, daß in dem jungen Orestes, dem jüngsten Kinde Agamemnons und Klytämnestras, dem Vater ein Rächer nachwachse. Obgleich er kaum zwölfjährig war, hätte sie ihn doch gerne getötet, um sich von aller Furcht der Strafe zu befreien. Aber seine kluge Schwester Elektra, besonnener als die Mörder, hatte sogleich nach der Tat Sorge für ihn getragen und ihn heimlich dem Sklaven, dem seine Aufsicht anvertraut war, übergeben. Dieser hatte ihn nach Phanote im Lande Phokis gebracht und ihn dort als ein heiliges Unterpfand dem befreundeten Könige Strophios übergeben, der sein zweiter Vater wurde und ihn mit seinem eigenen Sohne Pylades sorgfältig erzog.
AGAMEMNON GERÄCHT
Elektra führte inzwischen im Königspalaste ihres ermordeten Vaters das traurigste Leben, und nur die Hoffnung, ihren Bruder einst, zum Manne herangewachsen, als Rächer in den väterlichen Hallen erscheinen zu sehen, fristete ihr kummervolles Dasein. Von der Mutter wurde ihr die bitterste Feindschaft zuteil; im eigenen Stammhause mußte sie mit den Mördern ihres Vaters wohnen und ihnen in allem unterwürfig sein; auf sie kam es an, ob sie darben oder den notdürftigen Unterhalt empfangen sollte. Auf dem Thron Agamemnons sah sie
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