Sagen des klassischen Altertums
den Kopf schüttelte und davonging, so rief sie ihr nach: »Geh, geh! nie werde ich deinem Tritte folgen!«
Sie saß noch immer unbeweglich auf der Schwelle des Palastes, als zwei junge Männer in der Begleitung anderer mit einer Totenurne dahergeschritten kamen. Der schönste und blühendste von ihnen wandte sich an Elektra, fragte nach der Wohnung des Königes Ägisth und gab sich als einen der Abgesandten aus Phokis kund. Da sprang Elektra auf und streckte die Hände nach der Urne aus. »Bei den Göttern, Fremdling!« rief sie, »wenn ihn dies Gefäß verhüllet, so gib es mir, auf daß ich mit seiner Asche den ganzen unglückseligen Stamm bejammere!«
»Wer sie auch sein mag«, sprach der Jüngling, die Jungfrau aufmerksamer betrachtend, »gebet ihr die Urne! Sicherlich hegt sie keine Feindschaft gegen den Toten, ist vielmehr eine Freundin oder gar ein ihm anverwandtes Blut.« Elektra faßte die Urne mit beiden Händen, drückte sie wieder und immer wieder ans Herz und rief dazu in unverhaltenem Jammerton: »O du Überrest des geliebtesten Menschen! Wie mit ganz anderer Hoffnung habe ich dich ausgesandt und begrüße dich jetzt, da du so zurückkehrtest! Wär ich doch lieber gestorben, anstatt dich in die Ferne hinauszusenden; dann wärest du an demselben Tage am Grabe des Vaters als Schlachtopfer gesunken, wärest nicht in der Verbannung umgekommen und von Fremdlingshänden bestattet worden! So war denn all meine Pflege, all meine süße Mühe umsonst! Das alles ist mit dir gestorben; der Vater ist tot, ich selbst bin tot, seitdem du nicht mehr lebst: die Feinde lachen, unsere Mutter genießt in wilder Lust, denn jetzt fürchtet sie keine heimlichen Rachebotschaften, an mich von dir gerichtet, mehr. Ach, nähmest du mich doch auch mit auf in deine Urne; ich bin vernichtet, laß mich dein Nichts mit dir teilen!«
Als die Jungfrau so jammerte, konnte sich der Jüngling, der an der Spitze der Gesandten stand, nicht länger halten und seine Zunge nicht mehr zwingen. »Ist's möglich«, rief er, »diese Jammergestalt soll Elektras edles Bild sein? O gottlos, o frevelhaft entstellter Leib! Wer hat dich so zugerichtet?« Elektra blickte ihn verwundert an und sprach: »Das macht, ich muß den Mördern meines Vaters dienen, gezwungen von der verruchten Mutter, und mit der Asche in dieser Urne ist alle meine Hoffnung dahin!« »Stell diesen Aschenkrug weg!« rief der Jüngling mit tränenerstickter Stimme, und als Elektra sich weigerte und die Urne fester ans Herz drückte, sprach er weiter: »Weg mit der leeren Urne, es ist alles nur Schein!« Da schleuderte die Jungfrau das Gefäß von sich und rief in Verzweiflung: »Wehe mir! wo ist sein Grab denn?« »Nirgends«
war die Antwort des Jünglings; »den Lebendigen wird kein Grab gemacht!« »So lebt er, lebt er?« »Er lebt, wenn anders ich selbst vom Lebenshauch beseelt bin; ich bin Orestes, bin dein Bruder, erkenne mich an diesem Malzeichen, mit dem der Vater mich am Arme gezeichnet! Glaubst du nun, daß ich lebe?« »O
Lichtstrahl in der Nacht!« rief Elektra und lag in seinen Armen.
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Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
In diesem Augenblicke kam der Mann aus dem Palast, welcher der Königin die falsche Todesbotschaft aus Phokis überbracht hatte; es war der Pfleger des jungen Orestes, dem einst Elektra selbst den Knaben übergeben und der ihn auf ihren Befehl ins Land des Phokier geleitet hatte. Als er mit kurzen Worten der Jungfrau dieses kundtat, reichte sie ihm erfreut die Hand und sprach: »O du einziger Retter dieses Hauses!
Welchen Dienst haben mir diese teuren Hände, diese treu bemühten Füße geleistet! Wie verbargst du dich so lange unentdeckt? Wie habt ihr doch alles angelegt und verabredet?« Aber der Pfleger stand ihren ungestümen Fragen nicht Rede. »Es wird die Zeit kommen, da ich dir alles mit Gemächlichkeit erzählen kann, edle Königstochter! Jetzt aber drängt die Stunde zum Angriff, zur Rache! Noch ist Klytämnestra allein im Hause, noch bewacht sie kein Mann drinnen; denn Ägisth verweilt noch in der Ferne! Wenn ihr aber noch einen Augenblick zögert, so habt ihr mit vielen und Überlegenen den Kampf zu wagen!«Orestes stimmte ein und eilte mit seinem treuen Freunde Pylades, dem Sohne des Königes Strophios aus Phokis, der an seiner Seite gekommen war, und mit allen andern Begleitern in den Palast, und Elektra, nachdem sie flehend den Altar Apollos umfaßt hatte, folgte ihnen.
Wenige Minuten waren verflossen, als
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