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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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Ägisth zurückkehrend in den Palast trat und hastig nach den Phokiern fragte, die, wie er unterwegs vernommen, die Freudenbotschaft von Orestes' Tode gebracht hätten. Die erste, die ihm im Innern des Königshauses begegnete, war Elektra, und er richtete mit höhnendem Übermut auch an sie die Frage: »Sprich, du Hochfahrende, wo sind die Fremdlinge, die deine Hoffnung vernichtet haben?« Elektra unterdrückte ihr Gefühl und antwortete ruhig: »Nun, sie sind drinnen, ihrer lieben Wirtin zugeführt!« »Und melden sie«, fuhr er fort, »auch wahrhaftig seinen Untergang?« »O ja,«
    erwiderte Elektra, »nicht nur dies, sondern sie haben ihn selbst bei sich.« »Das ist das erste erfreuliche Wort, das ich von deinen Lippen höre!« sprach hohnlachend Ägisth, »doch siehe, da bringen sie ja den Toten schon!«
    Frohlockend ging er dem Orestes und seinen Begleitern entgegen, die einen verhüllten Leichnam aus dem Innern des Palastes in die Vorhalle trugen. »O froher Anblick«, rief der König und heftete seine gierigen Augen darauf, »hebet schnell die Decke auf, laßt mich ihn des Anstands halber beklagen; es ist ja doch verwandtes Blut!« So sprach er spottend. Orestes aber entgegnete: »Erhebe du selbst die Decke, Herrscher!
    dir allein gebührt es, liebevoll zu sehen und zu begrüßen, was unter dieser Hülle liegt!« »Wohl«, antwortete Ägisth, »aber ruf auch Klytämnestra herbei, daß sie schaue, was sie gerne sehen wird.« »Klytämnestra ist nicht ferne«, rief Orestes. Indem lüftete der König die Decke und fuhr mit einem Schrei des Entsetzens zurück: nicht die Leiche des Orestes, wie er gehofft hatte – der blutige Leichnam Klytämnestras zeigte sich seinen Blicken. »Weh mir«, schrie er, »in welcher Männer Netze bin ich Unglückseliger geraten?« Orestes aber donnerte ihn mit tiefer Stimme an: »Weißt du denn nicht schon lange, daß du zu Lebendigen als zu Toten sprächest? Siehest du nicht, daß Orestes, der Rächer seines Vaters, vor dir steht?« »Laß mich reden!«
    sprach zusammengesunken Ägisth. Aber Elektra beschwor den Bruder, ihn nicht anzuhören. Verstummend stießen ihn die Ankömmlinge hinein in den Palast und an demselben Orte, wo er einst den König Agamemnon im Bade gemordet, fiel Ägisth wie ein Opfertier unter den Streichen des Rächers.
    ORESTES UND DIE EUMENIDEN
    Orestes hatte, als er die Rachepflicht für den Vater an der Mutter und ihrem Buhlen übte, nach dem Willen der Götter selbst gehandelt, und ein Orakel des Apollo hatte ihm befohlen, zu tun, was er getan. Aber die Frömmigkeit gegen den Vater hatte ihn zum Mörder an der Mutter gemacht. Nach der Tat erwachte die Kindesliebe in seiner Brust, und der durch eine andere Naturpflicht gebotene Frevel gegen die Natur, den er im gräßlichen Zwiespalte der Pflichten begangen hatte, ließ ihn den Rächerinnen solcher Frevel, den Erinnyen oder Rachegöttinnen, anheimfallen, welche die Griechen aus Furcht auch die Eumeniden, das heißt ›die Gnädigen‹ oder ›die uns gnädig sein mögen‹, benannten. Töchter der Nacht und schwarz wie diese, von entsetzlicher Gestalt, übermenschlich groß mit blutigen Augen, Schlangen in den Haaren, Fakkeln in der einen Hand, in der andern aus Schlangen geflochtene Geißeln, verfolgten sie den Muttermörder auf jedem Schritt und Tritt und sandten ihm ins Herz die nagenden Gewissensbisse und die quälendste Reue.
    Sogleich nach der Tat jagten ihn die Eumeniden fort vom Schauplatze derselben, und als ein wahnsinniger Flüchtling verließ er die wiedergefundenen Schwestern, das Vaterhaus Mykene und sein Vaterland. In dieser Not blieb ihm sein treuer Freund Pylades, den er in einem Augenblicke der Besinnung mit seiner Schwester Elektra verlobt hatte, redlich zur Seite, kehrte nicht in seine Heimat Phokis und zu seinem Vater Strophios zurück, sondern teilte alle Wanderungen in der Irre mit seinem wahnsinnig gewordenen Freunde. Außer dieser treuen Seele hatte Orestes keinen menschlichen Beschützer in seinem 262
    Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
    Elend. Aber der Gott, der ihm die Rache befohlen hatte, Apollo, war bald sichtbar, bald unsichtbar an seiner Seite und wehrte die ungestüm nachdringenden Erinnyen wenigstens vom Leibe des Verfolgten ab. Auch sein Geist wurde ruhiger, wenn der Gott in der Nähe weilte.
    So waren die Flüchtlinge auf ihren langen Irrfahrten endlich ins Gebiet von Delphi gekommen, und Orestes hatte im Tempel des Apollo selbst, dessen Zutritt den

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