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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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Erinnyen verwehrt war, eine Freistätte für den Augenblick gefunden. Der Gott stand mitleidig zu seiner Seite, wie er, auf dem Estrich des Heiligtums ausgestreckt, von Müdigkeit und Gewissensangst abgemattet, gestützt auf seinen Freund Pylades, ausruhte, und sprach ihm Hoffnung und Mut mit den Worten ein: »Unglücklicher Sohn, sei getrost. Ich werde dich nicht verraten; mag ich nahe oder ferne sein, so bin ich dein Wächter, und nie werde ich deinen Feindinnen feige weichen! Du siehst auch, wie dort draußen die grauenvollen alten Mägde, deren Umgang Götter, Menschen und selbst Tiere scheuen, die sonst tief drunten in den Finsternissen des Tartaros wohnen, vom bleiernen Schlafe durch mich gebändigt, meinem Tempel ferne liegen. Dennoch verlaß dich nicht auf ihren Schlummer; er wird nicht lange dauern, denn mir ist immer nur kurze Macht über die greisen Göttinnen vom Schicksale verliehen. Deswegen mußt du bald wieder auf die Flucht; doch sollst du nicht länger ohne Ziel umherirren. Richte vielmehr deine Schritte nach Athen, der ehrwürdigen alten Stadt meiner Schwester Pallas Athene; dort will ich dir für ein gerechtes Gericht sorgen, vor welchem du deine Stimme erheben und deine gute Sache verteidigen kannst. Keine Furcht soll dich darum bekümmern; ich selbst scheide jetzt von dir, aber mein Bruder Hermes wird dich bewachen und sorgen, daß mein Schützling nicht verletzt werde.«
    So sprach Apollo. Noch bevor er aber seinen Tempel und den Orestes verließ, war das Schattenbild Klytämnestras im Traum vor die Seelen der schlummernden Rachegöttinnen getreten und hatte ihnen die zornigen Worte zugehaucht: »Ist's auch recht, daß ihr schlafet? Bin ich so ganz von euch verlassen, daß ich ungerächt in der Nacht der Unterwelt umherirren muß? Das Gräßlichste habe ich von meinen nächsten Blutsverwandten erduldet, und kein Gott zürnt darüber, daß ich von den Händen des eigenen Sohnes ermordet gefallen bin? Wie viele Trankopfer, von meiner Hand euch ausgegossen, habt ihr geschlürft, wie viele nächtliche Mahle habe ich euch aufgetischt! Das alles tretet ihr jetzt mit Füßen, und eure Beute lasset ihr entrinnen wie ein Reh, das mitten aus den Netzen davonhüpft! Höret mich, ihr Unterirdischen! Ich bin's, Klytämnestra, die ihr zu rächen geschworen und die sich jetzt in euren Traum einmischt, an euren Schwur euch zu erinnern.«
    Die schwarzen Göttinnen konnten des Zauberschlafes nicht so bald loswerden, und erst die lauten Worte des Schattens, die in ihren Traum hineintönten: »Orestes, der Muttermörder, entgeht euch!« rüttelten sie endlich aus dem Schlummer empor. Eine erweckte die andere, wie wilde Tiere sprangen sie vom Lager auf, und ohne Scheu stürmten sie in den Tempel Apollos selbst hinein, und hatten schon die Schwelle überschritten: »Zeussohn«, schrien sie ihm entgegen, »du bist ein Betrüger! Du junger Gott trittst die alten Göttinnen, die Töchter der Nacht, mit Füßen, du wagst es, uns diesen Götterverächter und Mutterfeind vorzuenthalten, du hast ihn uns gestohlen und willst doch ein Gott sein! Ist das auch vor den Göttern recht?«
    Apollo dagegen trieb die nächtlichen Göttinnen mit scheltenden Worten aus seinem sonnigen Heiligtum:
    »Fort von dieser Schwelle«, rief er, »ihr Greuelhaften! Ihr gehört in die Höhle des Löwen, wo Blut geschlürft wird, ihr Scherginnen des Schicksals, und nicht in den heiligen und reinen Sitz eines Orakels!« Vergebens beriefen sich die Rachegöttinnen auf ihr Recht und ihr Amt. Der Gott erklärte den Verfolgten für seinen Schützling, weil er in seinem Auftrag als der fromme Sohn seines Vaters Agamemnon gehandelt, und vertrieb die Eumeniden von der Schwelle seines Tempels, daß sie, die Macht des Gottes fürchtend, weit rückwärts flohen.
    Dann übergab er den Orestes mit seinem Freunde der Obhut des Hermes, des Gottes, in dessen Schutze die Wanderer stehen, und kehrte in den Olymp zurück. Die beiden Freunde aber schlugen, wie der Gott ihnen befohlen hatte, den Weg nach Athen ein, während die Erinnyen ihnen, aus Scheu vor der goldenen Rute des Götterboten, nur aus der Ferne zu folgen wagten. Allmählich jedoch wurden sie kühner; und als die beiden Freunde glücklich in der Stadt Pallas Athenes angekommen waren, heftete sich ihnen die Schar der Rächerinnen dicht an die Ferse, und kaum hatte Orestes mit seinem Freund den Tempel der Athene betreten, so stürmte auch schon der grauenvolle Chor durch die offenen Pforten desselben

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