Sagen des klassischen Altertums
und in ihrer ganzen himmlischen Hoheit dastand:
»Höret diese Bestimmung der Gründerin eurer Stadt, Bürger von Athen! Jetzt wo ihr den ersten Streit wegen vergossenen Blutes richtet! Für alle Folgezeit soll dieser Gerichtshof in euren Mauern bestehen. Hier auf diesem heiligen Areshügel, wo einst im Amazonenkriege gegen Theseus die feindlichen Heldinnen ihr Lager hatten und dem Gotte des Krieges ihr Opfer darbrachten, soll, nach dem Orte benannt, der Areopag sein Blutgericht halten und durch fromme Scheu die Bürger Tag und Nacht zurückschrecken. Aus den heiligsten Männern der Stadt gebildet stifte ich ihn, unzugänglich dem Gewinne, ehrwürdig, streng, einen wachsamen Schutz für die Schlafenden im ganzen Lande. Ihr alle Einwohner sollet seine Würde scheuen und ihn schirmen als eine heilsame Stütze eurer Stadt, wie kein anderes Volk in Griechenland oder unter den Ausländern sie besitzt. Dies sei für die Zukunft verordnet. Nun aber, ihr Richter erhebet euch, scheuet euren Eid und leget zur Entscheidung des Streites eure Stimmen in die Urne nieder!«
Schweigend erhuben sich die Richter von den Sitzen und traten einer um den andern an die Urne, und die Stimmsteine rollten nacheinander hinein. Als alle abgestimmt hatten, traten auserlesene, durch einen Eid verpflichtete Bürger hinzu und zählten die schwarzen und die weißen Steine ab. Da befand es sich, daß die Zahl beider gleich war und die Entscheidung der vorsitzenden Göttin zukam, wie sie sich im Beginne des Gerichtes dieselbe vorbehalten hatte. Athene stand abermals von ihrem Sitze auf und sprach: »Ich bin von keiner Mutter geboren, bin das alleinige Kind meines Vaters Zeus und aus seiner Stirne entsprungen, eine männliche Jungfrau, des Ehebundes unkundig, doch die geborne Beschützerin der Männer. Ich werde nicht auf die Seite des Weibes treten, das seinen Ehegatten freventlich erschlagen hat, dem schnöden Buhlen zu Gefallen. Nach meines Herzens Meinung hat Orestes wohlgetan: er hat nicht die Mutter umgebracht, sondern die Mörderin des Vaters. Er siege!« Damit verließ sie den Richterstuhl, ergriff einen weißen Stimmstein und fügte ihn den andern weißen Steinen hinzu. »Dieser Mann«, sprach sie sodann feierlich, auf ihren Thron zurückgekehrt, »ist durch Stimmenmehrheit von dem Vorwurf ungerechten Mordes freigesprochen!«
Als das Urteil gefällt war, wandte sich Orestes zu der Göttin und sprach in tiefer Bewegung seines Herzens: »O Pallas Athene, die du mein Geschlecht und mich des Vaterlands Beraubten gerettet hast, in ganz Griechenland wird man deine Wohltat preisen und sagen: ›So wohnet denn jener Argiver wieder in der Väter Palast, erhalten durch die Gerechtigkeit Athenes und Apollos und des Göttervaters, ohne dessen Willen auch das nicht geschehen wäre.‹ Ich aber ziehe heim, diesem Land und Volke schwörend, daß für 265
Gustav Schwab – Sagen des klassischen Altertums
ewige Zeiten kein Argiver kommen soll, die frommen Athener zu bekriegen! Ja wenn lange nach meinem Tode einer meiner Landsleute es wagen wollte, diesen meinen Eid zu verletzen, so wird von der Väter Gruft aus noch mein Geist ihn strafen und ihm Unheil auf den Weg senden, daß er seine verfluchten Pläne gegen diese Stadt nicht ausführen kann. Lebe denn wohl, du erhabene Beschützerin des Rechtes und du frommes Volk der Athener; möge dir in jedem Kriege und in allen Dingen Sieg und Heil zuteil werden!«
Unter solchen Segenswünschen verließ Orestes den heiligen Hügel des Ares, geleitet von seinem Freunde, der während des ganzen Gerichts nicht von seiner Seite gewichen war; die Rachegöttinnen wagten es nicht, gegen den Spruch der Göttin sich an dem Freigesprochenen zu vergreifen, auch scheueten sie die Gegenwart Apollos, der bereit war, den Ausspruch des Gerichtes aufrechtzuerhalten. Aber die Sprecherin der Schar stand von dem Sitze der Klägerinnen auf, und in übermenschlicher Größe dem Gott und der Göttin als ebenbürtig entgegenstellend, ließ sie mit der rauhen Stimme der Nacht ihre trotzige Einsprache gegen das Urteil also vernehmen: »Wehe uns! Die uralten Gesetze habt ihr zu Boden getreten, ihr jüngeren Götter; habt sie uns älteren Göttern aus den Händen gerungen! Verachtet, machtlos zürnend stehen wir da.
Doch soll euch euer Urteil gereuen, ihr Athener! Alles Gift unseres erzürnten Herzens werden wir über diesen Boden ausschütten, wo die Gerechtigkeit verachtet worden ist. Der Fraß soll über alle Pflanzen, das Verderben
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