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Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gustav Schwab
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Hindin anstatt der Jungfrau getroffen hatte, da stahl die erbarmungsvolle Göttin Artemis das Mägdlein aus den Blicken der Griechen weg und trug sie durch das Lichtmeer des Himmels auf ihren Armen über Meer und Land zu diesen Tauriern und ließ sie hier in ihrem eigenen Tempel nieder. Dort fand sie der König des Barbarenvolkes, Thoas mit Namen, und bestellte sie zur Priesterin des Artemistempels, wo sie im Dienste der Göttin des fürchterlichen Brauches pflegen und, wie die alte Sitte des rohen Landes heischte, jeden Fremdling, dessen Fuß dies Ufer betrat – und meistens waren es Landsleute von ihr, Griechen, die dieses jammervolle Los traf –, der Landesgöttin opfern mußte. Indessen hatte sie nur das Todesopfer einzuweihen. Niedrigere Diener der Göttin mußten dasselbe sodann in das Heiligtum hinein zur grausen Schlachtbank schleppen.
    Jahre schon hatte die Jungfrau, ihres traurigen Amtes wartend, übrigens hochgehalten vom Könige und um ihrer milden, griechischen Sitte und ihrer eigentümlichen Liebenswürdigkeit willen verehrt vom Volke, fern von der Heimat und gänzlich unbekannt mit den Geschicken des Hauses, vertrauert, als es ihr einstmals in der Nachtruhe träumte, sie wohne fern von diesem Barbarenstrand im heimatlichen Argos und schlafe von den Sklavinnen des Elternhauses umringt. Da fing auf einmal der Rücken der Erde zu beben und zu zittern an, und ihr war, als flöhe sie aus dem Palaste, stände draußen und müßte sehen und hören, wie das Dach des Hauses zu wanken begann und der ganze Säulenbau, bis auf den Grund erschüttert, zu Boden rasselte. Ein einziger Pfeiler – so dünkte ihr – vom väterlichen Hause blieb übrig. Mit einem Male bekam dieser Pfeiler Menschengestalt; aus dem Säulenknauf wurde ein Haupt, von blondem Haupthaar umwachsen, und dieses fing an, in vernehmlichen Lauten zu reden, deren Inhalt jedoch der Jungfrau entfallen war, als sie wieder erwachte. Im Traume aber geschah es noch, daß sie, ihrem Fremdenmord befehlenden Amte getreu, den Menschen, der ein Pfeiler ihres Vaterhauses gewesen war, als zum Tode bestimmt, mit dem Weihwasser besprengte und dazu bitterlich weinen mußte, bis sie der Traum verließ.
    Am Morgen, der auf dieselbe Nacht folgte, war Orestes mit seinem Freunde Pylades am taurischen Uferstrande ans Land gestiegen, und beide schritten auf den Tempel der Artemis zu. Bald standen sie vor dem Barbarengebäude, das eher einem Zwinger denn einem Götterhause glich, und blickten staunend an dem hohen Mauerringe empor. Endlich brach Orestes das Schweigen. »Du treuer Freund«, sprach er, »der auch dieses Weges Gefahr mit mir geteilt hat, was fangen wir an? Wollen wir den Treppenkranz, der sich um den Tempel schlingt, erklimmen? Aber wenn wir droben sind, werden wir nicht in dem unbekannten Gebäude wie in einem Labyrinthe umhertappen? Und werden nicht eherne Schlösser uns den Zugang zu den Gemächern verschließen? Würden wir aber, indem wir Einlaß suchen, indem wir öffnen, an dem Tore von den Wachen, die ohne Zweifel bei dem Heiligtum aufgestellt sind, erhascht, so sind wir des Todes. Denn das wissen wir ja, daß Griechenmord den Altar dieser unerbittlichen Göttin unaufhörlich bespritzt! Darum, wäre es nicht geratener, zu dem Schiffe zurückzukehren, dessen Segel uns hierhergebracht hat?«
    »Ei«, erwiderte Pylades, »das wäre wahrlich das erste Mal, daß wir miteinander die Flucht ergriffen!
    Heilig soll uns der Ausspruch Apollos sein! Doch wahr ist's, fort müssen wir von diesem Tempel! Das Klügste ist, wir verbergen uns in den dunklen Grotten, die das Meer bespült, ferne von unserem Fahrzeug, damit keiner, der es erblickt, dem Herrscher dieses Landes von uns melden könne und wir nicht von Waffengewalt, die gegen uns ausgesendet wird, übermannt werden. Wenn aber dann die Nacht anbricht, dann laß uns frisch ans Werk schreiten. Die Lage des Tempels kennen wir nun schon; irgendeine List wird uns ins Innere des Tempelraumes führen, und haben wir das Götterbild einmal auf den Armen, so ist mir vor dem Rückwege nicht mehr bange. Tapfre stürzen sich mutig in die Gefahr! Haben wir rudernd nicht einen unermeßlichen Weg zurückgelegt? Nun wäre es doch schmählich, wenn wir am Ziele umkehrten und ohne die Beute, die der Gott uns bezeichnet hat, heimkehrten!«
    »Wohl gesprochen!« rief Orestes, »es geschehe, wie du rätst! Wir wollen uns verbergen, bis der Tag vorüber ist; die Nacht kröne unser Werk!«
    Die Sonne stand schon höher am

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