Salomes siebter Schleier (German Edition)
Laken bedeckt. Der andere, von Ärzten umringt, war Spike Cohen.
Ellen Cherry ließ die Papiertüte auf das Pflaster fallen (Minuten später wurde sie samt Spoon und allem von der Polizei beschlagnahmt, und Sprengstoffexperten machten sich daran, sie zu untersuchen). Sie drängte sich durch die Menge und sank neben Spike auf die Knie. Blut spritzte aus seinem Kopf wie Fusel aus einem Weinschlauch. Seine Augen waren weit aufgerissen, und er keuchte, als wolle er alle Luft der Welt auf einmal schnappen.
Ihr stehengebliebenes Herz pochte dumpf weiter, als sie sah, dass er lebte. Doch im gleichen hoffnungsvollen Augenblick erklang eine warnende Stimme in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, woher sie kam oder wem sie gehörte. Doch sie erschrak dermaßen, dass sie halb aufstand und sich umsah. Die Stimme hatte gesagt: «Boomer Petway kommt nicht mehr aus Jerusalem zurück.»
Warum nicht? Und was hatte Jerusalem mit dem zu tun, was hier geschah?
Sie spürte Abus Hand auf ihrer Schulter.
Sie hörte den Fetzen eines Songs aus einem unsichtbaren Lautsprecher:
Mein Herz ist ein Dritte-Welt-Land
Und deine Liebe ein Tourist aus der Schweiz.
Sie hatte ihn noch nie gehört, aber auf geradezu unheimliche Weise klang er vertraut. (Eines Tages würde sie erfahren, dass es Raoul Ritz’ erste Platte war.)
Als sie sich wieder Spike zuwandte, rechnete sie schon damit, dass er tot war. Doch die Ärzte hatten die Blutung zum Stillstand gebracht, und auf seinem Gesicht lag ein schwaches Grinsen. Von seiner günstigen Position auf dem vom Blut erwärmten Zement konnte er in aller Ruhe jeden Schuh in der Menge inspizieren.
Der sechste Schleier
Mitte Dezember ließ die Kälte plötzlich nach. Die Leute machten ihre Weihnachtseinkäufe in Hemdsärmeln. Auf der Fifth Avenue hätten Christrosen blühen können, so mild und schön waren die Tage. Der zunehmende Mond war ein typischer Wintermond, hoch und käsig, aber die Nächte, in denen er anschwoll, waren so lind wie Babyöl. An Heiligabend war Vollmond. Er rollte über den Himmel wie ein gruseliger Ball, wie ein Wagenrad von gespenstischem Frischkäse. Obwohl der Weihnachtsstern der hellere von beiden war, hielt er Abstand zu diesem Mond.
Die Mitternachtsmesse in St. Patrick’s lockte eine riesige Menge an. Der Erzbischof sprach in einer längst ausgestorbenen Sprache über einen längst verschiedenen Zimmermann. Nichtsdestotrotz war die Stimmung von fröhlicher Festlichkeit geprägt. Unten im Kellergeschoss, wo der Chor kaum zu hören war, rekelten sich die Unbelebten im Mondlicht, das durchs Gitter fiel.
«Es ist zum Heulen, dass unser Löffelchen nicht bei uns ist», sagte Dirty Sock. «Die Gute würd ausflippen bei all den Chorälen und Hymnen.»
«Stimmt», nickte Can o’ Beans. «Das würde sie in der Tat. Ich persönlich finde Choräle zwar erträglicher als Rap, aber nicht viel. Der Choral strahlt Hoffnung aus, der Rap Aggression, aber beide sind verwurzelt im überwältigenden Gefühl menschlicher Ohnmacht.»
«Hören Sie auf, Professer. Können Sie nicht endlich mal ’ne Pause einlegen? Es ist Heiligabend!»
«Und was hat das mit Ihnen zu tun, verehrter Polyesterfreund?»
In der Hoffnung, ihre Kabbelei im Keim ersticken zu können, beschrieb Conch Shell dem Strumpf und der Dose die winterlichen Feierlichkeiten, die man zu dieser Jahreszeit auf Jerusalems Tempelberg abzuhalten pflegte. Im Vergleich dazu war die Messe, die über ihnen zelebriert wurde, offenbar ziemlich fade, doch selbst Painted Stick unterbrach die Betrachtung des Punktes, an dem sich der Strahl des Mondes mit dem Licht des Sterns kreuzte, um einzuräumen, dass die Orgel musikalische Möglichkeiten bot, die für eine Trommel oder ein Tamburin undenkbar gewesen wären.
«Die Musik hat sich verändert», sagte Painted Stick, «doch der Stern im Osten ist derselbe.»
Draußen ratterten Lastwagen mit den ersten Lieferungen der Morgenzeitung vorbei. Die Schlagzeilen lauteten: «Truppen sichern von Pilgern belagertes Bethlehem.»
Und in der Herrentoilette des Isaac & Ishmael’s drüben auf der United Nations Plaza stand Verlin Charles mit der Hand auf dem Hosenschlitz da und starrte durch ein Fenster auf den Weihnachtsstern.
Verlin und Patsy hatten erwartet, dass Ellen Cherry zu Thanksgiving nach Hause kommen würde, doch sie hatte abgesagt. In letzter Minute war ihr klargeworden, dass sie es nicht ertragen würde, über den langen Eichentisch hinweg auf einen gebratenen Truthahn sehen zu müssen,
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