Salomes siebter Schleier (German Edition)
«Jingle Bells» hintereinander.
Einen Tag nach Weihnachten gingen Verlin und Patsy ins Museum of Modern Art, um sich den Airstream-Truthahn anzusehen. Es war Patsys Idee. «Ich hab das verrückte Ding umsonst gesehn», murrte Verlin. «Warum soll ich jetzt gutes Yankee-Geld zahlen, um es mir noch mal anzugucken?»
Sie fuhren mit dem Taxi hin, die Fenster heruntergekurbelt, um die für die Jahreszeit ungewöhnliche Wärme hereinzulassen. Der chaotische Trubel der nachweihnachtlichen Einkaufsflut drang mit dem Wetter herein.
«Das is ja wie in Asien», sagte Patsy und staunte über das Gewimmel, die bunten Päckchen, das tausendfach verstärkte Stimmengewirr.
«Es is wie –», sagte Verlin, unfähig, sich einen Kontinent, ein Land oder irgendeine menschliche Gesellungsform vorzustellen, mit der sich diese päckchenbepackte, auspuffgasatmende, ellbogendrängelnde, verkehrsbehindernde Menge vergleichen ließ. «Es is wie bei der Krönung der Heuschreckenkönigin», sagte er schließlich. Patsy verstand kein Wort, und Verlin war sich nicht sicher, ob es ihm anders ging, obgleich ihm sein Großhirn die vage Erinnerung an eine Heuschreckenplage funkte, die er mal in einer Tiersendung im Fernsehen gesehen hatte.
Verständlicherweise hatte Ellen Cherry keine große Lust, den Truthahn wiederzusehen, schon gar nicht in diesem Kunst-Ambiente. Kunst-Ambiente? Der Truthahn war doch selber Kunst. Die Kardinäle der Kunst hatten es so gewollt. Sie hätte wetten können, dass er das einzige Werk in diesem Museum war, in dem ein Paar seine Flitterwochen verbracht hatte, obwohl es bei näherem Hinsehen in der Sammlung ein paar Gemälde gab, die aussahen, als hätte es auch bei ihrer Produktion kräftig gebumst.
Als sie auf dem Weg zum Flughafen im Ansonia haltmachten – Patsy musste noch ihre Kürbis-Pie-Form abholen –, hatten ihre Eltern wenig über den motorisierten Truthahn zu sagen, außer dass er «anders, vollkommen anders» aussah, wenn er in einem großen leeren Raum geparkt war. Dafür sprachen sie über ein anderes Stück von Boomer, eins, das offensichtlich aus der Sommervell-Ausstellung stammte und vom Museum gekauft worden war. Ihrer Beschreibung nach war es ein riesiger, geschweißter Kleiderbügel, etwa zwei Meter lang. Darauf hing, ordentlich zusammengefaltet, ein flacher Wolkenkratzer aus Leinwand mit Bügelfalten. Fenster, Türen und andere architektonische Details waren aufgemalt. Das Stück baumelte von der Decke, und an der Wand war eine Karte angebracht mit Boomers Namen, den Materialien, die er benutzt hatte, und dem Titel. Der Titel lautete:
Donald Trumps Hose kommt aus der Reinigung.
«Offensichtlich», sagte Ellen Cherry und imitierte dabei Ultimas näselnde Stimme, «äußerst polyvalent.»
Verlin war perplex. «Ich seh, dass Boomer sein Zeug in ’nem berühmten Museum ausstellt, und ich seh die Bilder von den alten Socken, Dosen und Löffeln, die du malst …»
«Die Geschichte mit diesem Löffel ist mir immer noch unheimlich», sagte Ellen Cherry und sah zum Kaminsims hinüber.
«Aber ein Poltergeist ist er nun nich grad, Liebes», sagte Patsy.
«… und dann frag ich mich, wer is eigentlich verrückt auf dieser Welt und wer normal.»
«Tja, Daddy, ich hab immer geglaubt, dass Künstler dem Wahnsinn verfallen, weil sie lauter ästhetische Kunstwerke schaffen müssen, um die geistige Gesundheit der Gesellschaft zu erhalten. Heutzutage aber machen Künstler bewusst hässliche Kunst, um der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, statt sie zu inspirieren. Daher drehen wir jetzt wahrscheinlich alle zusammen durch, wie verrückte Ratten im Scheißhaus des freien Marktes.»
«Sehr passende Ausdrucksweise für eine junge Dame.»
«Aber ich will dir mal was sagen, Daddy: Der irrste Künstler, den ich je getroffen habe, war stinknormal im Vergleich zu Buddy Winkler.»
«Du nimmst deinen Onkel Bud einfach zu ernst. Das meiste is doch einfach bloß Gerede. Obwohl, einiges davon könnte uns alten Sündern schon das Zuhörn wert sein.»
«Ich hoffe um seinetwillen, dass es nur Gerede ist, denn wenn ich je rauskriege, dass er was mit den Schüssen auf Mr. Cohen zu tun hatte …»
«Jetzt isses aber genug, Mädchen! Fang bloß nicht an, dir auch noch so was einzubilden!»
«Okay, aber …»
Ellen Cherry begleitete sie zur Tür, wo Pepe ihnen ein Taxi rief. Raouls Schicht hatte noch nicht begonnen. Als Patsy und Verlin auf dem Weg zum La Guardia waren, ging sie wieder hinauf, legte sich
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