Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
schnell wie möglich runter, weil sie Hunger hat und der gedeckte Kaffeetisch wartet.
All diese Überlegungen – ich wechselte nach jedem Stück die CD – sollten mich eigentlich nur ablenken. Eswar leichter, über Mendelssohn zu theoretisieren, als den nackten Tatsachen ins Auge zu sehen. Ich brauchte Abstand zu meinem Erlebnis im Klassikladen, denn die Situation hatte sich vollkommen überraschend entwickelt.
»Das ist für dich«, hatte ich zu Gabriela gesagt, als ich ihr das Foto überreichte.
»Wirklich, du willst es mir schenken?«, erwiderte Gabriela verblüfft.
Ich weiß noch, dass ich nickte und ganz traurig wurde, weil ich damit ja das Einzige weggab, was mich an sie erinnerte. Jetzt hatte ich nur noch ihre sanfte Stimme auf dem Anrufbeantworter. Trotzdem sagte ich: »Du kannst es behalten. Ich glaube nicht, dass meine Schwester es vermisst.«
Und dann war die Bombe eingeschlagen.
»Dann lade ich dich aber zum Dank auf einen Kaffee ein, okay?«
Ich hatte mir immer vorgestellt, dass unmittelbar nach einem Bombeneinschlag absolute Stille herrschen würde. Erst Sekunden später würden die ersten Schreie ertönen. So ähnlich ging es mir auch bei Gabrielas Worten. Ich traute meinen Ohren einfach nicht und blieb völlig stumm, bis sie hinzufügte: »Was hältst du von morgen um zwei, wenn ich den Laden zumache?«
Ich nickte. Ich glaube, alles, was ich herausbrachte, war: »Ja, gut.«
Dann wurde ich plötzlich ganz fahrig, als ich die CD bezahlen wollte. Ein paar Geldstücke fielen mir herunter und Gabriela bückte sich, um mir beim Aufsammeln zu helfen. Unsere Gesichter trafen sich unter der Theke, für einen Moment trennten uns nur wenige Zentimeter, wie vor dreißig Jahren. Ich glaube, sie lächelte mich an, wasallerdings kein Beweis dafür war, dass sie sich an irgendetwas erinnerte. Vielleicht amüsierte sie sich über meine Ungeschicklichkeit, oder sie wollte einfach nur freundlich sein.
Am Ende reichten die Münzen gar nicht für die CD, und ich musste mit einem Schein bezahlen. Voller Schmach über meinen jämmerlichen Auftritt verließ ich hastig den Laden.
Zu Hause angekommen, verkroch ich mich im Wohnzimmer wie ein verschrecktes Tier. Doch zwei Freunde, Schiff und Barenboim, wachten über mich, und zu dritt schaukelten wir in Mendelssohns Gondel dahin.
MONDSTAUB
Der Mittwoch ließ sich außergewöhnlich an. Nach einer nervösen und weitgehend schlaflosen Nacht sprang ich beim ersten Weckerklingeln wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett.
Seltsamerweise sprang Mishima nicht mit mir auf, sondern schlief seelenruhig weiter.
»Ich nehm’s dir nicht übel«, sagte ich zu ihr. »An deiner Stelle würde ich es genauso machen.«
In Blitzgeschwindigkeit hatte ich geduscht, mich angezogen und gefrühstückt, obwohl ich es im Grunde gar nicht eilig hatte. Einen Augenblick später war ich schon auf dem Weg zur Metro. Es schien eigentlich ein eher lauer Tag, aber ich fror mit jedem Schritt mehr. Eine beißende Kälte kroch mir die Beine hoch und ließ mich am ganzen Körper zittern.
Da merkte ich, dass ich keine Schuhe anhatte. Ich war in Socken aus dem Haus gegangen und war jetzt schon zu weit weg, um umzukehren, und mir Schuhe anzuziehen. Die Schuhgeschäfte würden allerdings nicht vor zehn öffnen. Was nun?
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, als hätte ein Planet sich vor die Sonne geschoben, und ein vertrautesSummen ertönte in einer Stadt, in der anscheinend nur ich allein unterwegs war.
Ich schlug die Augen auf und fand mich wieder in meinem Bett. Verwirrt sah ich mich um und schaltete den Wecker aus.
Die Art Erlebnisse nennt man für gewöhnlich »falsches Erwachen«. Man wacht im Traum auf und tut genau das, was man tun würde, wenn man wirklich aufgestanden wäre. Ehe man durch ein Geräusch oder eine Bewegung unsanft in die echte Realität katapultiert wird, ist man der festen Überzeugung, tatsächlich zum Beispiel barfuß durch Barcelona zu laufen.
Das Ganze ist ziemlich lästig, denn wenn man dahinterkommt, muss man ja noch einmal aufwachen, und alles geht wieder von vorne los.
Eine Stunde später – dieses Mal mit Schuhen und bei vollem Bewusstsein – schlenderte ich im obersten Stockwerk des Instituts auf dem Gang auf und ab. Ich war früh dran und vertrieb mir jetzt die Zeit damit, ein paar Katzen auf dem Dach zu beobachten, während ich mir mein Brötchen schmecken ließ.
Das Dach und der parkartige Innenhof des Philologischen Instituts sind von einer
Weitere Kostenlose Bücher