Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
sagt.«
»Du bist also ein Zeitvertreiber ...«, sagte sie in dem liebenswürdigen Ton, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Und hast du schon viel vertrieben?«
»Es geht.«
»Ich habe im Bett gelegen, ich war gerade kurz vorm Einschlafen.«
Einen Moment lang stellte ich mir Gabrielas Lockenpracht vor, auf dem Kissen ausgebreitet wie eine geöffnete Blüte, und war kurz davor, die Fassung zu verlieren. Doch ich rief mich streng zur Ordnung.
»Gleich ist mein Guthaben alle, und ich habe kein Kleingeld mehr. Wann und wo wollen wir uns treffen?« Das Schweigen dauerte kaum einen Augenblick. »Morgen um sechs, im Caelum.«
»Das kenne ich nicht. Wie soll das heißen?«
»Denk einfach an den Himmel.«
Dann brach die Verbindung ab. Zwar hatte ich keine Ahnung, wo wir verabredet waren, aber ich war jetzt wieder vollkommen ruhig.
Den Blick fest gen Himmel gerichtet, schien die ganze Welt mit einem Mal wie neu. Das Geschrei der Kinder in den Straßen erschien mir nicht mehr als störender Lärm, sondern als Ausdruck puren Lebens; und der Wind war keine eisige Schneide mehr, sondern eine frische Liebkosung.
Mein Blick fiel noch einmal auf den Zettel, auf dem ich ihre Nummer notiert hatte. Es gefiel mir, wie ihr Name da neben den neun Ziffern stand: GABRIELA.
EINE BLUME AM RANDE DES ABGRUNDS
Auf meinem Rückweg ins Institut fiel mir auf, dass es et was gab, was ich dringend klären musste. Da hatte ich diese lange Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschlagen und mich nicht einmal gefragt, ob Gabriela überhaupt frei war. Mit Mitte dreißig sind ja die meisten Frauen fest liiert, haben Kinder. Wie hatte ich das völlig außer Acht lassen können?
Irgendetwas sagte mir jedoch, dass Gabriela allein war, wenn ihre Art von Alleinsein vermutlich auch eine andere war als meine. Jede Einsamkeit ist einmalig und einzigartig, denn sie hat ihre ganz eigenen Gründe.
Während ich die Flure der alten Universität entlangwanderte, stellte ich mir vor, ich würde mit Gabriela Hand in Hand spazieren. Beinahe konnte ich ihre Wärme und ihre glatte Haut spüren.
Plötzlich sprach mich einer meiner Studenten an und riss mich aus meiner Träumerei. Sein Anliegen war denkbar prosaisch: »Wann ist noch mal die Klausur?«
Wie jemand, der nach einer langen Reise unter einem Jetlag leidet, brauchte ich eine Weile, um zu begreifen.
»Die Sprachklausur«, versuchte er es noch einmal. »Die ist doch im Februar, oder?«
Kopfschüttelnd holte ich meinen Kalender aus der Tasche und diktierte ihm Datum und Uhrzeit. Anschließend schlüpfte ich hinter ihm in den Seminarraum, um den Unterschied zwischen Konjunktiv I und Konjunktiv II zu erklären.
Bevor ich wieder in meine Rolle als strenger Pauker schlüpfte, dachte ich noch: Wenn du dich getäuscht hast und Gabriela deine Gefühle nicht erwidern kann, wirst du in ein ziemlich tiefes Loch fallen. Doch ein Spruch von Stendhal, den ich vor Kurzem gelesen hatte, gab mir Zuspruch:
Die Liebe ist eine köstliche Blume, aber man muß den Mut haben, sie am grausigen Rand eines Abgrunds zu pflücken.
NICHTS IST REAL
»Weißt du was? Ich habe manchmal das Gefühl, der Unfall, den ich in Patagonien hatte, ist vielleicht gar nicht so abgelaufen, wie ich denke.«
Valdemar hatte es sich wieder auf derselben Sofaseite bequem gemacht, saß im Dunkeln da und rauchte. Kurz vor Mitternacht war er hinuntergekommen, ich wollte gerade schlafen gehen. Neben der Mittagszeit waren diese Nachtstunden offenbar seine beste Zeit.
Das ist es, dachte ich bei mir, bevor ich etwas erwiderte. Er hat einen festen Zwölfstundenrhythmus. Dazwischen ist er noch nie aufgetaucht.
»Ach nein? Wie ist er denn abgelaufen?«
Valdemar nahm einen tiefen Zug und für einen Augen blick war seine schweißbedeckte Stirn hell erleuchtet.
»Manchmal habe ich den Verdacht, dass ich bei diesem Unfall damals gestorben bin. Du hattest ganz recht: Es ist unmöglich, einen Sturz aus dreißig Metern Höhe zu überleben. Vielleicht war alles, was seither passiert ist, nichts als ein Traum: der Weg an dem zugefrorenen Fluss entlang, das Blitzlicht, die Rettung, das Krankenhaus, die Rückkehr nach Barcelona, diese Unterhaltung hier ... Nichts von alldem ist real.«
»Aber wenn es nicht real ist«, erwiderte ich, »wie können wir dann hier sitzen und darüber reden?«
»Das gehört alles zu dem Traum. Das ist nämlich der einzige Ort, an dem die Toten leben können.«
»Ich bin also Teil deines Traums.«
»So
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