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Sandor Marai

Sandor Marai

Titel: Sandor Marai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Nacht vor der Scheidung
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Verräter, ein Deserteur, der mit weißer Flagge in der
Hand aus dem Schützengraben krieche. Wenn Europa zugrunde gehe, alles, was die
Menschen dieses Kontinents erbaut hatten, und alles, woran sie glaubten – die
Städte, die Theater und die Wohnungen –, was zähle es dann schon, was mit Hans
und Grete geschähe und ob einzelne Menschen mit einem Bissen Nahrung ihr Leben
weiterfristen könnten?
    Christoph folgte den strengen Worten
und nickte zustimmend. Sein Geist erfaßte das Gesagte klar, und in diesem
Augenblick war es ihm, als begreife er alles. Man hatte die Worte nur
auszusprechen: »Europa geht zugrunde«, und dann war plötzlich etwas
verständlich geworden, was vorher gar nicht zu begreifen
war. Es handelte sich nicht darum, wodurch und wann »Europa zugrunde gehen«
würde, das konnte niemand wissen – es handelte sich darum, daß man über eine
solche Möglichkeit bereits sprechen konnte. Es war zum Gesprächsthema hier im
Garten oder drinnen im Wohnzimmer und in anderen Gärten und Zimmern geworden,
überall in der Welt – in regenumhüllten nordischen Städten und auch im Süden,
in den schönen zypressenbeschatteten Gärten, die von Steinmauern umgeben
waren und wohin Christoph so lange schon hatte fahren wollen –, und jetzt
dachte er daran, daß es dazu vielleicht schon zu spät wäre.
    Er lauschte dem weiteren Verlauf des
Gesprächs, mitfühlend und höflich. »Das ist schon Brüderleins Sache«, dachte
er zerstreut, »der Krieg ist Brüderleins Angelegenheit; meine Aufgabe ist die
andere Dienstordnung: der Friede.« Er betrachtete den Bruder, den gepflegten,
hübschen Garten, die Vielzahl der Gesichter über dem Durcheinander der Tische,
und weiter entfernt: die Zimmer, den Lampenschein, die Umrisse der Möbel. In
diesem Augenblick kam ihm auch das Bekannte neu vor, so, als hätte er noch nie
die Form eines Tischs oder Stuhls richtig erfaßt. »Wenn alles zugrunde geht«,
dachte er spöttisch, weil er die Übertreibung dieser Vorstellung verabscheute,
»wenn wir in den Höhlen, in die wir vor dem Gas fliehen, mit allem von vorne
beginnen müssen, ich würde wahrscheinlich weder einen Tisch noch ein Stuhlbein
herstellen können. Ja, wenn alle Tischler zugrunde gingen, wir würden sehr
lange auf der bloßen Erde oder auf den Steinen herumhocken. Ich kann auch keine
Tapeten aufkleben und keine elektrischen Klingeln reparieren, ich verstehe
nichts von all dieser Zivilisation.«
    Doch vorläufig war man in dieser
Zivilisation noch geborgen: Die Lampe brannte und verbreitete ihren
künstlichen Schein, das Abendblatt lag mit seiner sonderbaren, übergroßen
Schlagzeile auf dem Tisch. Im Zimmer drinnen hatte die Jugend mit der frivolen
Tanzmusik aufgehört. Aus dem offenen Fenster strömte eine heitere, klare
Melodie.

10
    »Mozart«, sagte Hertha, richtete
sich auf und ordnete ihr Haar. »Eine kleine Nachtmusik ...« Sie standen zum
Aufbruch bereit und verabschiedeten sich. Lieblich strömten die Klänge durch
den Garten, durch die laue Abendluft. Diese Musik glich dem Gesang eines
Vogels, und sie hielt die Gäste noch für einen Augenblick zum Verweilen an. Der
Senatspräsident war schon fort, der Hausherr irrte im Garten umher und suchte
Christoph, Hertha lauschte den Tönen, als spräche jemand mit ihr.
    Sie blickte
auf Christoph, und dann lief ihr Blick über die Bäume. Es war ein fremd-vertrauter
Blick, wie ihn Menschen haben, die endlich die Stimme der Heimat hören, eine
Mundart, die nur sie in jeder Nuance verstehen. »Eine kleine Nachtmusik«, sie
sagte es noch einmal, still und ein wenig zaghaft in die Dämmerung hinein. Nun
schlossen sich dem schwärmerischen Locken der Flöten und Klarinetten mit sachlichem
Ernst die Violinen an. Diese Klänge kamen aus der Ferne, und dennoch war dieses
ungreifbare, körperlose Etwas zumindest
eine ebenso große Wirklichkeit wie die Welt, die diese Töne aufnahm. Es ertönte
eine Seele, sie schlich sich in ihrer aller Nähe – die Person, zu der sie einst
unmittelbar gesprochen hatte, weilte nicht mehr hier, aber die Seele
schmeichelte und warb noch immer, sie verneigte sich mit zierlicher Grazie und
vertraute ihnen ihr Geheimnis an.
    Emma war schon vorausgegangen, sie
stand in dem gewölbten weißen Korridor mit der Miene eines Menschen, der mit
dieser Musik nichts zu schaffen hat. Als der letzte Ton verklungen war, gingen
auch Christoph und Hertha. Sie schritten die Bastei entlang. Der Abend war
schwül und sepiabraun, in der Tiefe lag der alte

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