Sarah Maclean
nichts
als eine Riesenenttäuschung!" Sie wandte sich wieder ihrem
Schrank zu und begann, Schuhe aus seinen Tiefen hervorzuzer-
ren. Ihre Stimme war nur gedämpft zu hören, als sie fortfuhr:
„Ich bin eine ... Bürgerliche ... eine Italienerin ... Katholikin."
In den Pausen warf sie die Schuhe hinter sich.
„Ich versichere dir, dass Ralston sich aus alledem nichts
macht."
„Ha!" Schwer atmend drehte Juliana sich zu Callie um.
„Vielleicht nicht! Aber ich versichere dir, dass er sich garantiert
etwas daraus macht, dass ich die Tochter seiner Mutter bin ...
einer Frau, die er verachtet."
Callie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen,
dass er dich für die Fehler deiner Mutter ..."
„Du hast leicht reden, Callie. Du hattest schließlich nicht un-
sere Mutter!" Callie schwieg, während Juliana begann, Schuhe
in den Koffer zu werfen. „Unsere Mutter war eine furchtbare
Frau. Kalt und absolut fasziniert von sich selbst. Ich erinnere
mich nur an sehr wenig, außer dass sie immer uno specchio mit
sich herumtrug - einen Spiegel, damit sie sich immer betrach-
ten konnte." Sie verlor sich in ihren Erinnerungen. „Und sie
wollte nie angefasst werden. Sie hatte immer Angst, dass ihre
Kleider zerknittern oder Flecken bekommen könnten."
Julianas Stimme wurde leiser. „Sie hat mir nicht erlaubt, sie
zu berühren. ,Kinder haben schmutzige Hände', hat sie immer
gesagt. ,Wenn du einmal älter bist, wirst du mich verstehen.'"
Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich verstehe es nicht. Welche
Frau würde nicht wollen, dass ihre Tochter sie berührt? Dass
ihre Söhne sie berühren? Wie konnte sie uns nur alle verlassen?"
Sie sah auf den Koffer, in dem sich in wildem Durcheinander
Kleider, Schuhe und Unterwäsche türmten. „Ich habe immer
davon geträumt, Brüder zu haben - die ich berühren dürfte.
Die mir erlauben würden, schmutzig zu sein. Die mit mir spie-
len würden. Und mich beschützen. Una famiglia." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Und nun stellt sich heraus, dass ich
welche habe. Sie hat mir welche geschenkt."
„Das zumindest ist etwas Gutes, das sie für dich getan hat."
Callie ging neben Juliana in die Hocke und legte den Arm um
das junge Mädchen.
„Und jetzt habe ich alles kaputt gemacht."
Callie schüttelte den Kopf. „Streit kann vorkommen. Glaub
mir, er will nicht, dass du abreist."
Juliana sah Callie an. Ihre blauen Augen sahen Raistons so
ähnlich. „Ich könnte sie lieben."
Callie lächelte. „Gut. Genau wie es sein soll."
„Was ist, wenn für mich hier kein Platz ist? Ich bin ganz an-
ders als sie. Und was ist, wenn ich trotzdem nirgends anders
hingehöre?"
Callie hielt das Mädchen fest umarmt, während Juliana ihre
Fragen stellte - deren Antwort entscheidend für ihre Zukunft
waren.
Und während sie schweigend dahockten, erkannte Callie,
dass nur Ralston Juliana davon überzeugen konnte, dass hier
ihr angestammter Platz war, auf den sie ein Anrecht hatte.
Sie musste ihn suchen gehen.
Eine so harsche Kritik hat Juliana nicht verdient.
Ralston drehte sich von dem großen Fenster weg, das auf
den Park von Ralston House hinausging, und sah seinem
Zwillingsbruder in die Augen. „Sie hat ihren Tanzmeister einen
Idioten geheißen."
„Nun, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - ganz
falsch lag sie damit ja nicht." Nick ging zu Ralston und bot ihm
ein Glas Whisky an, das sein Bruder gern annahm. Schweigend
standen die beiden am Fenster und sahen dem Spiel der Son-
nenstrahlen im Blätterdach zu, das unregelmäßige Schatten auf
die Erde malte.
Nach einer Weile warf Ralston seinem Bruder einen Blick zu.
„Verteidigst du sie?"
„Keineswegs. Deine Reaktion war jedoch ein bisschen viel
für sie. Sie ist empfindsamer, als sie aussieht."
Ralston nahm einen großen Schluck Whisky. „Wenn ich an
den mörderischen Blick denke, den sie mir zuwarf, bin ich mir
nicht so sicher, ob sie überhaupt etwas Empfindsames an sich
hat."
Möchtest du mir vielleicht erklären, was dich so aufgeregt
hat?"
„Nein", versetzte Ralston.
Nick wandte sich vom Fenster ab und ging zu einem großen
Sessel am Kamin. Er setzte sich, nahm einen großen Schluck
und wartete ab. Der Blick, den Ralston seinem Bruder über die
Schulter hinweg zuwarf, hätte einen geringeren Mann in die
Flucht geschlagen. Nick jedoch lehnte sich zurück und meinte:
„Mir scheint, sobald du Lady Calpurnia und mich hast tanzen
sehen, hat es bei dir
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