Satori - Winslow, D: Satori - Satori
Hochtouren. Hunderte von Bürokraten waren bereits kurzerhand hingerichtet worden – öffentlich erschossen –, und Tausende andere in Arbeitslager verschleppt, wo ein langsamer, quälender Erschöpfungstod sie erwartete.
Nikolai beobachtete, wie Chen vier Zigaretten aus der Packung nahm und sie für den Fahrer auf den vorderen Sitz legte. Geschickt, dachte er.
Nikolai war zum ersten Mal in Peking. Er war in Schanghai aufgewachsen und hatte diese weltoffene Stadt fest in sein Herz geschlossen. Die alte Reichshauptstadt dagegen wirkte ganz anders mit ihren breiten, für Militärparaden angelegten Prachtstraßen, den riesigen öffentlichen Plätzen, die dem Wind so ungeschützt ausgesetzt waren, dass sie fast schon mahnend daran zu erinnern schienen, wie rasch und vollständig Veränderungen eintreten konnten und wie angreifbar man selbst war, wenn der Wind plötzlich die Richtung wechselte.
Chen schien ihm einen kleinen Schritt voraus. »Sie waren noch nie in Peking?«
»Nein«, sagte Nikolai und starrte aus dem Fenster, als der Wagen auf die Jianguomen Avenue einbog. »Und Sie, sind Sie von hier?«
»Oh ja«, sagte Chen, als würde er sich über die Frage wundern. »Ich bin in Peking geboren und aufgewachsen. Außenstadt.«
Zwei Ecken weiter wurde die Straße zur Chang’an Avenue, der Hauptschlagader der Stadt, die den Osten mit dem Westen verband und an der südlichen Grenze der Verbotenen Stadt und ihrer charakteristischen roten Mauer entlangführte. Nikolai konnte das Tor des Himmlischen Friedens sehen, wo Mao zwei Jahre zuvor die Volksrepublik China ausgerufen hatte. Im Rahmen seiner Vorbereitungen hatte er auch erfahren, dass Juri Woroschenin an jenem Tag dort dabei gewesen war.
Riesige Tafeln auf beiden Seiten des Tores verkündeten jeweils ›Lang lebe die Volksrepublik China‹ und ›Lang lebe die Einheit der Völker der Welt!‹.
»Kleiner Abstecher gefällig?«, fragte Chen.
»Bitte.«
Chen wies den Fahrer an, sie zum Platz des Himmlischen Friedens zu fahren, der eine einzige Baustelle war, weil er gerade erweitert wurde, um Raum für noch größere öffentliche Kundgebungen zu bieten. Gebäude wurden abgerissen, der Schutt weggebracht oder eingeebnet.
»Wenn es fertig ist«, sagte Chen stolz, »wird dort Platz für über eine Million Menschen sein.«
Deren eigene Häuser zuvor abgerissen wurden, dachte Nikolai, nur damit sie sich öffentlich versammeln können.
Peking war eine beeindruckende, imposante Stadt, zugeschnitten auf die Demonstration von Macht. Nikolai mochte Schanghai lieber, obwohl er sicher war, dass sich auch das sehr verändert hatte. Das China, das er gekannt hatte, war ein buntes Durcheinander von Farben und Stilen gewesen – Schanghai war das Modezentrum des Landes –, die Einwoh ner von Peking dagegen sahen alle gleich aus, die meisten trugen die vorgeschriebenen wattierten blauen, grünen oder grauen Mäntel, dazu weite Hosen und Maomützen.
Nachdem er den Platz des Himmlischen Friedens umrundet hatte, bog der Fahrer in nördlicher Richtung auf die Wangfujing Street ein und fuhr vor dem Beijing Hotel vor, einem um die Jahrhundertwende im europäischen Stil erbauten, siebenstöckigen Gebäude mit drei Torbögen und einem Säulengang im obersten Stockwerk. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, nahm Nikolais Tasche aus dem Kofferraum und übergab sie dem Portier. Der kleine Mann mittleren Al ters hatte Mühe, die Tasche in die Lobby zu schleppen, schlug aber Nikolais ausgestreckte Hand aus.
»Der war mal stellvertretender Bürgermeister«, raunte Chen Nikolai zu und führte ihn an dem Portier vorbei. »Kann von Glück reden, dass er noch lebt.«
Die Lobby wirkte gespenstisch. Nikolai wusste, dass dies einst das europäische Machtzentrum von Peking gewesen war, von dem aus die westlichen Handelsbarone ihre asiatischen Geschäftspartner herumkommandiert hatten. Die chinesischen Kellner waren mit Tabletts voller Gin Tonics und Whiskey Sodas hier entlanggehastet und hatten den achtlosen Rassismus der Franzosen, Deutschen, Engländer und Amerikaner über sich ergehen lassen. In Schanghai war es genauso gewesen, aber hier – nur einen kurzen Fußweg vom Reichspalast entfernt – musste es noch demütigender gewirkt haben.
Er wunderte sich, dass die Kommunisten das Gebäude nicht einfach abgerissen und die schmerzhaften Erinnerungen in Schutt und Asche gelegt hatten, aber natürlich brauchte auch das neue Regime einen Ort, um seine ausländischen Gäste zu
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