Saubere Verhältnisse
nicht ganz menschenleer waren. Eine einfache Rolle. Sie brauchte nicht gut auszusehen oder angezogen zu sein, brauchte nichts Gescheites zu sagen oder auf bestimmte Weise aufzutreten. Niemand in den Häusern erwartete etwas von ihr. Sie ging einfach da draußen in der herbstlichen Dunkelheit spazieren, war da, wenn sie einen Blick aus dem Fenster warfen, und nahm einen Teil des Blickfeldes ein, einen Teil, den sie ebenso unbewußt registrierten wie eine vorbeistreichende Katze oder einen Schwarm Spatzen.
Sie ging eine Stunde spazieren, und der einzige Mensch, den sie traf, war ein älterer Mann mit einem Rauhhaardackel. Er nickte ihr höflich zu, und sie nickte zurück.
Sie erzählte nichts von ihrem Besuch im Vorort, als sie nach Hause kam. Jörgen, ihr Mann, würde es doch nicht verstehen und Simon, ihr Sohn, auch nicht. Sie hätte ihnen nicht erklären können, warum sie in einem fremden Vorort weit weg von zu Hause fast eine Stunde lang fröstelnd spazierengegangen war. Sie konnte es sich ja selbst nicht erklären.
Sie sagte also nichts. Sie fuhr weiter hin und wieder abends nach der Arbeit dorthin. Manchmal machte sie früher Schluß und fuhr am hellichten Tag hinaus. Aber sie hatte immer noch niemandem etwas davon erzählt. Der Vorort war ihr Geheimnis.
5
Yvonne war gegen neun im Büro von »Deine Zeit«. Nach einem Gespräch mit Cilla über ihren Anfängerkurs mit einer Gruppe von Langzeitarbeitslosen ging sie in ihr Zimmer, schaute ihre E-Mails durch und sortierte die Spams des Tages aus:
Sieben Nachrichten, mit denen ihr die Lieferung von Psychopharmaka rezeptfrei binnen 24 Stunden angeboten wurde. Eine, die ihr größere und aufregendere Brüste mit Hilfe eines Hormonpräparats versprach, und eine weitere, in der man sie mit ebensolchen Lippen zu locken versuchte. Drei mit Schlankheitsmitteln. In fünf Nachrichten wurde ihr Viagra angeboten. Neun versprachen ihr Penisvergrößerungen (sie hatten in letzter Zeit die Viagra-Angebote weit überholt). Eine Firma wollte sie dazu bringen, in eine bisher geheime Erfindung zu investieren. Und dann noch zwei Mitteilungen mit dem Absender Spam Control und Stop all Spam, wo man sich erbot, sie vor derlei Mitteilungen zu verschonen.
Danach erledigte Yvonne die normale Post, blätterte rasch ihre Tagesmappe durch und räumte nach ihrer eigenen Methode den Schreibtisch auf – das war ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen.
Zehn nach elf vertauschte sie den Bürostuhl gegen das Meditationskissen auf dem Boden. Sie setzte sich in den Halblotussitz, und ehe sie die Augen schloß, ließ sie den Blick rasch über den Ort gleiten, an dem sie sich befand:
Ein Zimmer in einem Altbau mitten in der Innenstadt. In den Bücherregalen weiße Ordner mit dem diskreten Tautropfen von »Deine Zeit« unten auf dem Rücken. Ein Kachelofen (zugemauert, aber schön). Ein marokkanischer Wandbehang in roten und ockergelben Farbtönen auf der ansonsten leeren, weißen Wand. Auf dem Schreibtisch ein Flachbildschirm und eine geschwungene Tastatur, ein unlinierter Spiralblock, ein Filzschreiber mit feiner Spitze und ein Telefon, dessen Design an etwas Organisches, Elastisches denken ließ, das zufällig aus der klaren Fläche wuchs, wie eine Wasserlilie aus einem See.
Ihre Augenlider schlossen dies alles aus, sie konzentrierte sich auf ihre Atmung.
Viertel vor zwölf war sie unten auf der Straße.
Einmal hatte Yvonne scherzhaft zu einer Kursteilnehmerin gesagt: »Am Ende seid ihr so effektiv, daß ihr nur eine Stunde am Tag im Büro sein müßt.« Sie hatten gelacht. Aber nun stand sie hier. Sie konnte es inzwischen viel zu gut. Cilla und Lotta machten das meiste allein, und sie machten es ausgezeichnet. Yvonne ließ sich nur informieren. Und das Geld strömte aufs Konto.
Sie war es gewöhnt gewesen, hart zu arbeiten. Sie hatte es gemacht, um es später ein bißchen ruhiger angehen zu können. Das konnte sie jetzt, und die Ruhe langweilte sie. Vielleicht sollte sie etwas Neues machen. Noch mal ganz unten anfangen. Aber so etwas macht eigentlich nur einmal im Leben Spaß.
Yvonne aß in dem kleinen Sushi-Restaurant an der Ecke zu Mittag und überlegte, ins Sportstudio zu fahren. Sie hatte ihre Trainingssachen im Auto. Aber sie überlegte es nicht ernsthaft, denn innerlich hatte sie sich schon entschieden. Sie wollte nur so tun, als hätte sie Wahlmöglichkeiten. Daß sie noch nicht abhängig war.
Sie fuhr in den Vorort, was sie inzwischen mehrmals pro Woche tat.
Es war
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