Schatten Der Erinnerung
sicher, ob er wusste, dass sie sich von seinem Bruder scheiden lassen wollte, obwohl sie annahm, dass Rick es ihm mitgeteilt hatte. Gespannt wie er auf ihre Frage reagieren würde, drehte sie sich zu ihm. »Hättest du Lust die Nacht im Haus meines Onkels zu verbringen? Das wäre nett und würde keinerlei Umstände machen.«
Edward sah sie erstaunt an. »Deines Onkels?«
»Ja.« Sie lächelte. »Hast du nicht gewusst, dass ich hier Familie habe? Brett D'Archand, der Schiffsmagnat, ist mein Onkel. Ich werde natürlich bei ihm wohnen.«
»Meinst du nicht, du solltest zu deinem Mann gehen?«
Reginas Augen blitzten. »Nein, das denke ich nicht.«
Edward schwieg einen Moment. »Ich verstehe. Und wann gedenkst du Slade zu treffen? Damit will ich nur meine Vermutung ausdrücken, dass wir deshalb in die Stadt gekommen sind.«
»Morgen, denke ich.« Sie hielt sich bedeckt, denn sie wollte Edward nicht ermutigen, weiter bei diesem Thema zu bleiben.
Edward blieb nichts anderes übrig, als höflich zu sein. »Möchtest du, dass ich bei deinem Onkel übernachte, damit ich dich morgen zu meinem Bruder bringen kann?« Er sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme.
Regina biss sich auf die Lippen. Wie konnte er nur erraten, dass sie trotz ihrer Wut ein wenig Angst bei dem Gedanken « hatte, Slade gegenüberzutreten? »Das ist wirklich nicht notwendig.«
Edward lächelte. Er sah so gut aus, dass sich die drei matronenhaften Damen, die auf der anderen Seite des Ganges saßen und ihn schon den ganzen Nachmittag verstohlen gemustert hatten, umdrehten und ihn anstarrten. Edward schenkte allen dreien ein Lächeln, bei dem seine Grübchen sichtbar wurden, bevor er fortfuhr. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Regina musste daran denken, dass sie jetzt nicht in dieser Klemme wäre, wenn Slade nur ein wenig von der Einfühlsamkeit seines Bruders besäße.
Schließlich hielt der Zug, und sie stiegen aus. Ein Schaffner brachte ihr Gepäck und geleitete sie bis zum Bahnhofsportal. Dort sah Regina, dass Edward ihm einen halben Silberdollar in die Hand drückte. Trinkgeld wurde natürlich erwartet, aber sie war erstaunt über Edwards Großzügigkeit. Eigentlich zu großzügig, fand sie, denn ein Nickel hätte genügt. Soweit sie wusste, war Edward ja nicht gerade reich.
Reisende bevölkerten die Straße. Ein Dutzend Droschken stand aufgereiht und wartete auf Fahrgäste. Kabelbahnen und Pferdeomnibusse boten bei Bedarf den langsameren, öffentlichen Transport. Kurz darauf saßen sie in einer Droschke, und Regina gab die Adresse ihres Onkels in der California Street an.
»Nob Hill?« fragte Edward.
»Ja«, erwiderte Regina. Sie wusste, was er dachte. Imposante und prächtige Herrenhäuser säumten Nob Hill. So war es nicht immer gewesen. Als Regina zum ersten Mal als kleines Mädchen nach San Francisco gekommen war, wohnte ihr Onkel bereits hier. Sein Haus mit vierzig Zimmern hatte damals die meisten anderen Residenzen in der Straße überragt. Als Regina vor einigen Jahren wieder in, die Stadt kam, stellte sie zu ihrem großen Erstaunen fest, dass das Haus ihres Onkels wegen der mächtigen Herrenhäuser entlang der California Street plötzlich kleiner erschien. Eines war größer als das andere.
»Charles Mann wohnt ebenfalls auf dem Nob Hill«, erwähnte Edward ruhig.
Regina stockte der Atem. Da sie nicht über Slade gesprochen hatten, wusste sie nicht einmal, wo er wohnte, wo er arbeitete oder was er genau tat. Sie zögerte, dann bemühte sie sich, einen unpersönlichen Ton anzuschlagen. »Und Slade?«
»Er hat ein bescheidenes Haus in der Gough Street gemietet, ist aber fast nie dort. Er arbeitet meist bis zum späten Abend im Büro und fängt auch in aller Hergottsfrühe dort an. Oft isst er mit Mann, und ich glaube, dass er sein Haus nur zum Schlafen benutzt.«
Regina schluckte. Es war nun fast sechs Uhr. Wenn sie jetzt an Manns Haus vorbeikämen, dann wäre Slade vielleicht noch dort, stellte sie sich vor. Der Gedanke belebte sie. Sie merkte, dass sie leicht schwitzte, obwohl es draußen wegen des Sommernebels ziemlich kühl war. »Wo ist sein Büro?«
»Sein Büro ist bei Mann im Feldcrest Building - das zufällig Mann gehört.«
Regina sah aus dem Droschkenfenster. Sie konnte die Market Street kaum erkennen, als sie sie überquerten, denn der abendliche Verkehr war noch nicht vorüber. Zum Überqueren der Kreuzung brauchten sie zehn Minuten.
Sie wusste gar nichts über das Leben ihres Mannes in San Francisco.
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