Schattenfall
einzige und völlig berechtigte Forderung des Kaisers zu erfüllen. Im Stammbaum jeder bedeutenden Familie Nansurs finden sich Dutzende Namen von Männern, die im Kampf um gerade die Gebiete gefallen sind, die der Heilige Krieg zurückerobern will.«
»Mag sein, Ikurei, aber diesmal sind wir es, die den Blutzoll zahlen.«
»Das ist dem Kaiser klar, und er weiß das wertzuschätzen. Darum hat er angeboten, die verlorenen Provinzen als Lehen zu vergeben – natürlich unter Oberhoheit des Kaiserreichs.«
»Das reicht nicht.«
»Nein? Es wird nie reichen, schätze ich. Ich gebe zu, mein Prinz, dass wir uns in einem höchst merkwürdigen Dilemma befinden. Anders als Ihr ist das Haus Ikurei nicht für seine Frömmigkeit bekannt, und jetzt, da wir endlich eine gerechte Sache verfechten, werden wir wegen früherer Geschichten angegriffen. Doch die Wut und Erregung eines Anklägers sagt nichts über Wahrheit und Unwahrheit seiner Argumente. Wissen wir dies nicht vom großen Ajencis? Ich bitte Euch daher eindringlich, Prinz: Seht über unsere Fehler hinweg und prüft unsere Forderung im milden Licht der Vernunft.«
»Und wenn die Vernunft mir etwas anderes sagt?«
»Dann solltet Ihr Euch vielleicht das Schicksal von Calmemunis vor Augen halten… So ungern Ihr es zugeben mögt: Der Heilige Krieg ist auf uns angewiesen.«
Erneut verzichtete Proyas auf eine Antwort.
Conphas fuhr mit einem überheblichen Lächeln fort: »Findet Euch damit ab, Nersei Proyas, dass Vernunft und Umstände für uns sprechen.«
Als Proyas sich weiter weigerte, Conphas zu antworten, verbeugte sich der Oberbefehlshaber, wandte sich mit lässiger Verachtung ab und entfernte sich mit seinem glänzenden Gefolge über den Strand. Die Brecher donnerten mit erneuter Wucht heran, und der Wind peitschte Proyas und seinen Leuten feine Gischt ins Gesicht. Eiskalte Gischt.
Proyas bemühte sich sehr, das Zittern seiner Hände zu verbergen. Gerade hatte ein Gefecht um den Heiligen Krieg stattgefunden, und Ikurei Conphas hatte den Prinzen vor versammelter Mannschaft vorgeführt – und das wie nebenher! Verglichen mit dem Oberbefehlshaber und seinem dreimal verfluchten Onkel waren seine bisherigen Sorgen – das war Proyas nun klar – kaum mehr als Stechmücken.
»Komm, Xinemus«, sagte er geistesabwesend, »wir müssen uns darum kümmern, dass das Heer ordentlich an Land geht.«
»Da ist noch eine Sache, mein Prinz… Etwas, das ich zu erwähnen vergaß.«
Proyas stieß einen tiefen Seufzer aus und erschrak über das hörbare Zittern darin. »Was gibt’s denn noch, Xin?«
»Drusas Achamian ist hier.«
Achamian saß allein am Feuer und wartete darauf, dass Xinemus zurückkam. Bis auf eine Handvoll Sklaven und ein paar Männer des Stoßzahns, die dann und wann vorbeigingen, war das Lager verlassen. Die Soldaten des Marschalls waren noch am Strand, um dem Prinzen und ihren Kameraden beim Anlanden zu helfen. Das Gefühl, allerorts von Höhlen aus Leinwand umgeben zu sein, beunruhigte ihn. Dunkle und leere Zelte, wohin er blickte. Und kalte Feuerstellen.
So würde es sein, wenn der Marschall und seine Männer in der Schlacht untergehen würden. Verlassene Habseligkeiten an Orten, die kurz zuvor noch von Stimmen und Blicken erfüllt gewesen waren. Abwesenheit.
Achamian schauderte.
In den ersten Tagen nach der Ankunft bei Xinemus und dem Heer des Heiligen Kriegs hatte Achamian sich mit Dingen beschäftigt, die die Scharlachspitzen betrafen. Er hatte einige kleine Figuren als Abwehrzauber um sein Zelt herum platziert – dezent, um die religiösen Gefühle der Inrithi nicht zu verletzen. Er hatte einen Einheimischen aufgetrieben, der ihm den Weg zu jenem Landhaus hatte zeigen können, in dem die Scharlachspitzen ganz isoliert wohnten. Er hatte Karten gezeichnet und Namenslisten angefertigt. Er hatte sogar drei heranwachsende Brüder angeheuert (Kinder eines nicht vererbbaren Shigeki-Sklaven, der einem Vasallen aus Ce Tydonn gehörte), den Weg zum Landhaus zu beobachten und ihm jedes auffällige Kommen und Gehen zu melden. Ansonsten gab es für ihn kaum etwas zu tun. Sein einziger Versuch, sich beim hiesigen Großgrundbesitzer, den die Scharlachspitzen mit ihrer Lebensmittelversorgung beauftragt hatten, einzuschmeicheln, hatte im Desaster geendet. Als Achamian nicht lockergelassen hatte, hatte der Mann buchstäblich versucht, ihn mit einem Löffel zu erstechen – nicht, weil er den Scharlachspitzen etwa loyal verbunden war, sondern aus blanker
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