Schattengrund
Leute so komisch auf mich reagiert haben? Als würden sie von mir erwarten, dass ich diese Fragen stelle und sie damit noch einmal zu Tode beleidige? Du bist doch genauso. Ihr seid hier alle eine einzige Familie. Jeder schützt jeden. Wenn es hart auf hart kommt, bist du auf einmal einer von hier.«
»Was wäre so schlimm daran?«, fragte er. Sie merkte, dass sie ihn wütend gemacht hatte.
»Es macht dich blind für das, was geschehen ist.«
»Was denn? Was ist passiert? Du hast doch nichts außer einer Kinderzeichnung und …« Er schnaubte verächtlich und deutete auf die Blätter. »… ein Märchen.«
Nico ging zum Bett und nahm die Blätter wieder hoch. Als sie weiterlas, klang ihre Stimme wütend, und ihr Ton bildete einen harten Kontrast zu den romantischen Worten, mit denen Kiana das Märchen aufgeschrieben hatte.
»Die Blumen blühten, wenn es vorüberging, und die Tannen neigten ihre Wipfel und wisperten: Schaut, da kommt die Prinzessin des Waldes. Doch nachts, wenn es träumte, erschien ihm das Bild von einem Prinzen, der ganz aus Silber war und in seiner Rüstung schlief. Er lag auf einem Block, getrieben aus reinstem Metall. Und ein Schwert, besetzt mit Edelsteinen, ruhte auf seiner Brust.«
Leon verschränkte trotzig die Arme über der Brust. Er legte die Füße auf die Bettkante und begann, auf seinem Stuhl unwillig vor- und zurückzuwippen. Es interessierte ihn nicht. Das war Kinderkram. Aber genau darin lag ein Schlüssel verborgen, den man nur finden konnte, wenn man wieder zu einem Kind wurde und die Dinge anders sah.
Nico setzte sich und las weiter. Mit großer Mühe versuchte sie, ihre Stimme sanfter klingen zu lassen. »Die Sehnsucht nach diesem Prinzen wuchs in seinem Herzen und wurde stärker von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht. Doch keiner, den es fragte, kannte ihn. Eines Tages ging das Mädchen auf eine Blumenwiese. Es war traurig, denn es fürchtete sich davor, dass der Prinz nur ein Traum war, der es genarrt hätte. Da kam eine Biene und summte in sein Ohr: Er liegt da oben im silbernen Grab. Ein Schmetterling tänzelte herbei und setzte sich auf die Hand des Mädchens, und er flüsterte: Nur alle zwölf Jahre öffnet sich die Tür. Und ein Rehkitz sprang herbei, scheu und zärtlich zugleich. Es wisperte: Wenn an diesem Tag ein Mädchen durch die Tür geht und ihn weckt, dann ist er erlöst. Er wird aufstehen und kämpfen für das Gute und Schöne. Keinen Schmerz wird es mehr geben, keine Tränen und kein Wehklagen, nur Freude und Lachen, und das silberne Grab wird zum Schloss des Lichts und der Freude, und Prinz und Prinzessin werden dort leben, glücklich bis ans Ende ihrer Tage.«
Sie schwieg. Leon starrte auf den Boden. Es war vielleicht nicht das schönste von Kianas Märchen, aber es war fatalerweise das, woran Kinder glaubten, wenn sie keinen anderen Ausweg sahen. Kinder glaubten an das Christkind. An die Zahnfee. Daran, dass am Ende alles gut ausging. Sie glaubten an den Retter. Zur Not auch an einen schlafenden Ritter in seinem silbernen Grab, der sie beschützen würde vor Tränen und Schmerz.
»Sehr schön«, kommentierte Leon. Es klang nach dem genauen Gegenteil. »Da oben liegt also ein silberner Ritter. Ich muss sagen, in unseren Bergen ist echt was los.«
Er schützte sich mit Ironie. Eine normale Reaktion auf etwas, das man nicht an sich heranlassen wollte.
»Dieses Märchen hat Fili in den Berg gelockt«, sagte Nico. »Das ist unsere Schuld. Das hat Kiana sich wohl selbst immer wieder vorwerfen müssen. Aber Fili hatte verdammt noch mal einen Grund wegzulaufen. Wir haben ihr vielleicht völlig unbeabsichtigt ein Ziel gegeben. Aber die Entscheidung, von Siebenlehen fortzugehen, hat sie alleine getroffen. Jemand sollte sie befreien. Erlösen. Das Böse beenden. Ich konnte das nicht. Ich war doch selbst noch viel zu klein.«
»Das ist mir zu viel Spekulation.«
»Aber das, was hier mit mir gemacht wird, beruht auf harten Fakten. Oder?« Sie merkte, dass er sie wütend machte. Seine ganze Art, diese Tragödie als einen schlechten Scherz abzutun, enttäuschte sie. Leon war bereit gewesen, ihrer Theorie zu folgen. Doch in dem Moment, in dem es nicht nur um Nico, sondern vielleicht auch um die Rolle seiner eigenen Familie ging, machte er dicht.
»Das ist was anderes.«
»Was anderes?« fragte sie. »Weißt du, was ich glaube? Du misst mit zweierlei Maß.«
Er stand auf und öffnete die Tür. Einen Moment lang glaubte Nico, er würde gehen. Erst dann begriff
Weitere Kostenlose Bücher