Schattenmelodie
es verstanden“, bestätigte ich und lächelte, weil er den Satz so leise geflüstert hatte, dass nur ich ihn verstehen konnte.
Er gab mir noch eine pinkfarbene pulvrige Substanz, die aus der roten Baumrinde der Bäume im magischen Wald stammte. Sie schmeckte so, als würde man einen Metallschlüssel lutschen, und begann auf der Zunge zu sprudeln wie Brausepulver. „Das geht direkt in die Nerven, damit deine Fähigkeit, in anderer Gedanken einzudringen, wieder gekräftigt wird.“
Ich nickte beeindruckt. Doktor Labot empfahl mir, noch eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus zu schlafen und dann würde er mich für den nächsten Tag entlassen.
„Was habe ich offiziell gehabt?“, fragte ich ihn, als er hinausging.
„Einen Schock aufgrund von Aufregung, dem ein chronischer Erschöpfungszustand vorausgegangen ist.“
Auf dem Flur draußen herrschte Stille. Die Nachtschwester hatte ihren Dienst begonnen und sich im Schwesternzimmer zur Ruhe gelegt. Ich konnte nicht einschlafen. Ich war einfach viel zu ausgeruht. Immer wieder dachte ich an Janus und zählte die Stunden. Ich wollte unbedingt zu ihm, alles wiedergutmachen. Ich musste! Meine Gedanken kreisten um tausend Situationen, wie ich ihm gegenübertreten würde.
Erst glaubte ich, mir in der Dunkelheit nur einzubilden, dass sich die Tür zu meinem Zimmer bewegte. Es fühlte sich unheimlich an, auf die normale Sehfähigkeit eines Menschen reduziert zu sein. Dann war ich mir sicher, dass sich meine Tür tatsächlich lautlos öffnete. Hektisch suchte ich nach dem Lichtschalter, aber schon stand Ranja vor meinem Bett.
„Niemanden rufen“, flüsterte sie. „Ich bin’s nur.“
Sie zog ihren kleinen Hexenbesen hervor und ließ an dessen Spitze eine kleine Flamme züngeln. „Ich habe gehört, deine Augen brauchen noch ein bisschen“, zwinkerte sie mir zu. Ich staunte, wie hübsch sie war im Schein der Kerze. Ranja besaß eine wunderbar glatte Haut und strahlte immer eine beeindruckende Tatkraft und Stärke aus.
„Gut siehst du aus!“, flüsterte sie mir anerkennend zu. „Ehrlich, ich hatte nicht gedacht, dass in so einem durch und durch sanften und ätherischen Wesen wie dir so ein funkensprühender Dickkopf steckt.“
Ich grinste verlegen. „Was machst du hier, Ranja?“
„Na, dich besuchen natürlich!“
Ich sah sie verwirrt an. „Mitten in der Nacht?“
„Natürlich nicht! Also, Folgendes: Als wir dich hergebracht haben, ist mir ein guter alter Freund über den Weg gelaufen. Ha, oder auf einem Krankenbett eher über den Weg gerollt.“ Sie lachte. „Ich meine, seine jährlichen Anfälle wegen der Löschung sind bei ihm besonders schlimm, aber es fällt mir schwer zu denken, dass er es nicht auch irgendwie verdient hatte.“
Ich überlegte, wen sie meinen könnte und dann fiel es mir ein. Es gab nur einen, über den Ranja so sprechen würde. Marcos Vorgänger im Rat, der mit seinem Geheimbund die magische Welt in Gefahr gebracht hatte.
„Jerome?“
„Genau der. Er liegt ebenfalls auf dieser Station und kuriert seine ‚Malaria‘ aus. Und Doktor Labot hat uns informiert, dass er in seinem Delirium einige interessante Dinge zum Besten gegeben hat.“
„In Bezug auf mich?“
„Nein, nein … In Bezug auf die Verschiebungen in der magischen Welt.“
„Oh, ach so!“ Das war mir jetzt ziemlich peinlich. So wichtig hatte ich nun auch wieder nicht sein können.
„Ich brauche deine Hilfe. Wir müssen zu ihm. Bist du schon fit genug?“
„Ja, alles in Ordnung.“
Während ich aus dem Bett schlüpfte und meinen Bademantel überzog, erzählte Ranja mir, dass Jerome Beziehungen zu einem Japaner gepflegt hatte, der mit Vornamen Haruto hieß. Eigentlich nichts Besonderes.
Wenn Gelöschte diese Malariaanfälle bekamen, begannen sie immer in der Vergangenheit zu leben. Sie erinnerten sich an ihr Dasein vor der Löschung, an die Freunde, die sie gehabt hatten. Sie träumten von ihnen, führten im Fieberwahn Gespräche mit ihnen. Doch sobald das Fieber nachließ, hatten sie alles wieder vergessen.
Haruto hieß jedoch auch der neue Besitzer des Hauses am Wetterplatz 8. Es ist zwar ein häufiger Vorname in Japan, aber das konnte trotzdem kein Zufall sein. Dr. Labot hatte den Namen aufgeschnappt, während er mich behandelte und Sulannia den anderen Mitgliedern des Rates berichtete, was sie über das Haus am Wetterplatz wusste. Er hatte ihnen mitgeteilt, dass Jerome im Fieber ebenfalls einen Haruto erwähnte, der für Jeromes Pläne,
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