Schattennacht
grotesk.«
»Darüber muss ich noch nachdenken.« Ich deutete auf den zweiten Geländewagen. »Den fahren Sie. Der Schlüssel befindet sich in dem Kästchen da drüben an der Wand. Er trägt ein Etikett mit dem Nummernschild.«
»Hat die Meditation über die Flecken oben an der Decke Ihre Furcht vor dem großen Unbekannten eigentlich ein wenig gelindert? «
»Soweit das zu erwarten war. Möchten Sie sich vielleicht auch ein paar Minuten Zeit nehmen, um darüber zu meditieren?«
»Nein, danke, Mr. Thomas. Das große Unbekannte macht mir keine Sorgen.« Er ging los, um den Schlüssel zu holen.
Als ich aufstand, waren meine Beine deutlich weniger wacklig als vorher.
Ozzie Boone, ein hundertachtzig Kilo schwerer Bestsellerautor von Kriminalromanen, der in Pico Mundo lebt und mein Freund und Mentor ist, hat mir eingeschärft, in meinen biografischen Manuskripten einen leichten Ton anzuschlagen. Er meint, Pessimismus sei nur etwas für Leute, die zu intellektuell und fantasielos sind, und Melancholie sei eine zügellose Form der Trauer. Wenn man als Autor einen ungemindert düsteren Stil beibehalte, so laufe man Gefahr, die Dunkelheit im eigenen Herzen zu nähren und dadurch zu genau dem zu werden, was man beklagt.
Angesichts des grässlichen Todes von Bruder Timothy und der schrecklichen Dinge, von denen noch die Rede sein wird, wäre der Ton dieser Erzählung zweifellos nicht halb so leicht geworden,
wäre darin nicht Rodion Romanovich vorgekommen. Damit meine ich nicht, dass er sich schließlich als netter Kerl entpuppt hätte, aber er hatte einfach Witz.
Inzwischen bitte ich das Schicksal nur noch um eines: Egal, ob die Personen, die es in mein Leben schleudert, böse, gut oder moralisch schwankend sind, sie sollen wenigstens einigermaßen amüsant sein. Das ist eine anspruchsvolle Bitte an das geschäftige Schicksal, das ständig Milliarden Leben zu verwalten hat. Es ist nämlich so, dass die meisten guten Menschen ohnehin Sinn für Humor haben. Das Problem liegt darin, amüsante böse Menschen zu finden, denn die sind meist humorlos, auch wenn sie in Kinofilmen häufig die besten Sprüche klopfen. Moralisch schwankende Zeitgenossen wiederum sind – mit wenigen Ausnahmen – zu sehr damit beschäftigt, ihr widersprüchliches Verhalten zu rechtfertigen, um über sich lachen zu können. Zudem ist mir aufgefallen, dass sie eher über andere Leute lachen als mit ihnen.
Breitschultrig, pelzgeschmückt und so ernst dreinblickend wie jemand, der Menschen für den Tod vorbereitet, kehrte Rodion Romanovich mit dem Schlüssel des zweiten Geländewagens zurück.
»Mr. Thomas, jeder Wissenschaftler wird Ihnen bestätigen, dass viele Systeme innerhalb der Natur zwar chaotisch aussehen, aber wenn man sie lange und genau genug betrachtet, liegt diesem vermeintlichen Chaos immer eine seltsame Ordnung zugrunde. «
»Ach«, sagte ich.
»Zum Beispiel wird der Wintersturm, in den wir nun hinausfahren, uns mit seinen wechselnden Winden, dem wirbelnden Schnee und seiner Helligkeit, die mehr verschleiert als enthüllt, chaotisch vorkommen. Könnten wir ihn jedoch nicht auf der Ebene eines meteorologischen Ereignisses betrachten, sondern
auf der mikroskopischen Ebene von Flüssigkeiten, Partikeln und Energieflüssen, so würden wir Muster erkennen, die an einen fein gewebten Stoff erinnern.«
»Leider habe ich meine Mikroskopbrille in meinem Zimmer gelassen.«
»Würde man den Vorgang auf der atomaren Ebene betrachten, so käme er uns vielleicht ebenfalls chaotisch vor, aber wenn man weiter in den subatomaren Bereich vordringt, erscheint wieder eine seltsame Ordnung, die noch komplexer ist als ein Gewebe. Immer, hinter jedem scheinbaren Chaos, wartet die Ordnung darauf, entdeckt zu werden.«
»Da haben Sie meine Sockenschublade noch nicht gesehen.«
»Wir beide scheinen rein zufällig zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort zu sein, doch sowohl ein ehrlicher Wissenschaftler als auch ein wahrer Mann des Glaubens würde Ihnen sagen, dass es keine Zufälle gibt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Auf der Leichenbestatterschule hatten Sie aber einen echt guten Philosophieunterricht.«
Kein Fleck und keine Falte verunzierten die Kleidung meines Gegenübers, und seine Gummistiefel glänzten wie Lackleder.
Stoisch, zerfurcht und unerschütterlich, war sein Gesicht eine Maske der perfekten Ordnung.
»Machen Sie sich erst gar nicht die Mühe, mich nach dem Namen der Leichenbestatterschule zu fragen, Mr. Thomas«, sagte er. »Ich habe nie
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