Schattennetz
Teile des Kugelschreibers einschließlich der dünnen Metallfeder wieder zusammenzubauen. »Aber mit Frau Simbach hab ich so gut wie keinen Kontakt.«
»Auch jetzt nicht, in dieser für Frau Simbach schwierigen Situation?«
»Auch jetzt nicht, nein. Und wenn Sie wissen wollen, was in den vergangenen Tagen auf der Kirchenschiene gelaufen ist, sollten Sie besser mit der Dekanin reden.«
»Ist denn was gelaufen?«
»Ich sagte doch – man schaut all dem nicht tatenlos zu.«
»Erlauben Sie eine letzte Frage. Sie waren gestern Mittag bei Frau Simbach in der Getränkehandlung …«
Weiter kam er nicht, denn Frau Schanzel sprang auf und fuhr ihm barsch über den Mund: »Was sagen Sie da? Sie spionieren mir nach? Sie wollen mir womöglich unterstellen, ich verheimliche Ihnen was? Das brauch ich mir nicht bieten zu lassen. Ich kann besuchen, wen ich will. Ich verbiete Ihnen, mich auf so eine hinterhältige Art und Weise auszufragen.«
Linkohr spürte, dass das Gespräch beendet war. Er stand auf, um mit der Frau auf gleicher Augenhöhe zu sein. »Es besteht kein Grund zur Aufregung. Wenigstens nicht aus meiner Sicht«, sagte er und hielt ihren Blicken stand. »Aber vielleicht wäre es in Ihrem Interesse, wenn wir in Ruhe über alles reden könnten.«
»Es ist alles gesagt«, stellte sie fest. »Frau Simbach hat Probleme. Erhebliche Probleme. Aber all dieses Geschwätz, diesen Klatsch und Tratsch, diese Stammtischparolen, das kennen Sie doch schon. Tun Sie doch nicht so, als sei das noch nicht bis zu Ihnen gedrungen. Wenn eine Frau sich mal nicht den moralischen Begriffen unterwirft, wird sie gleich abgestempelt, während Männer gerade tun und lassen dürfen, was ihnen einfällt. Und wenn ich in einer solchen Situation der Frau Simbach beistehe, hat das mit Ihrem Fall absolut nichts zu tun. Und ich bitte Sie, dies zu respektieren.«
Linkohr ließ zwei Sekunden verstreichen. »Und trotzdem würde mich interessieren, was es gestern Mittag zu bereden gab.«
»Wer gibt Ihnen eigentlich das Recht, mich derart zu belästigen? Ich verlange, dass Sie mir sofort sagen, wer Ihr Vorgesetzter ist.«
»Häberle. August Häberle. Erster Kriminalhauptkommissar bei der Polizeidirektion Göppingen. Leiter der Sonderkommission. Soll ich Ihnen seine Telefonnummer geben?«
»Verschwinden Sie«, zischte Ursula Schanzel und war kreidebleich geworden.
Linkohr nickte höflich und verließ die Villa.
Häberle wollte frische Luft schnappen und zu Fuß ins Dekanat gehen. Linkohr hatte ihm kurz von dem Gespräch mit Frau Schanzel und ihrem Hinweis berichtet, dass auf Kirchenebene einiges gelaufen sei. Vielleicht hatten sich in den vergangenen beiden Tagen auf diese Weise neue Erkenntnisse ergeben, dachte der Chefermittler, als er das Polizeigebäude verließ und an der vielbefahrenen Eberhardstraße entlangging. Dass der Weg zur oberen Stadt nicht gerade beste frische Luft bescherte, sondern jede Menge Lkw-Abgase, musste er wieder einmal feststellen. Er bog deshalb gleich nach dem Amtsgericht von der B 10 ab und ging quer über den Wilhelmsplatz in Richtung Fußgängerzone, die ihn durchs Herz der City zum Dekanat führte.
Die Dekanin bot ihm in ihrem Büro einen Sessel an, während sie selbst hinterm Schreibtisch sitzen blieb. »Glauben Sie mir«, begann sie, »mich beschäftigen diese Verbrechen genauso wie Sie. Man kommt sich ja langsam vor wie im Wilden Westen. Heut Nacht die Schüsse da drüben …« Sie deutete mit dem Kopf verächtlich in Richtung des Rosendols, das sich nur knapp 50 Meter hinterm Dekanatsareal befand, gerade mal getrennt von einer Grünfläche und der Straße.
»Ich bin zu Ihnen gekommen – nicht, weil ich mir von Ihnen konkrete Antworten auf konkrete Fragen erhoffe«, erklärte Häberle und öffnete die Knöpfe seiner Freizeitjacke. Ihm war heiß. »Mir wäre nur an Ihrer persönlichen Einschätzung gelegen. Denn inzwischen gibt es so viele Gerüchte und noch mehr Gerede.« Der Ermittler war über seine eigenen Worte selbst erschrocken. Es klang ja fast so, als ob er seelischen Beistand suche. »Aber vielleicht haben Sie eher Einblick in dieses Geflecht, das aus kirchlichem Engagement einerseits und einer dunklen Vergangenheit andererseits bestehen dürfte.« Dann erwähnte er, was Frau Schanzel gegen-über Linkohr angedeutet hatte.
Dies jedoch schien die Dekanin nicht gerade freudig zur Kenntnis zu nehmen. »Ich wollte heute noch offiziell an Sie herantreten. Sie können sich denken, dass wir auch
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