Schattennetz
mit der Schreibmaschine zu Papier gebracht. Wenn Sie mal Gelegenheit haben, dann besuchen Sie in Berlin das Stasimuseum. Dort sind ein paar Auszüge aus solchen Protokollen zu sehen. Sind wir nur froh, dass der ganze Irrsinn geendet hat, bevor das Computerzeitalter so richtig losgegangen ist. Wenn denen damals schon die heutigen Computer zur Verfügung gestanden hätten, vor allem die endlosen Speicherkapazitäten, hätten die wahrscheinlich jedes Wort, das ein Bürger gesprochen hat, in Datenbanken festgehalten.« Sie lächelte erneut. »So aber wars dann doch ein bisschen mühsam, alles auf Papier zu dokumentieren und Gespräche mit klapprigen Tonbandgeräten mitzuschneiden.«
Sie hat recht, dachte Häberle, wollte sich jetzt aber auf keine lange Diskussion darüber einlassen. »Und wie kam es dann zwischen Korfus und Alexander Simbach zu dem Zerwürfnis?«
»Als Korfus wieder in Bischofswerda war, damals im Sommer 89, soll er versucht haben, seinen alten Schulfreund Alexander Simbach politisch umzudrehen, wie man sagen könnte. Das jedoch ist ihm nicht gelungen. Zunächst nicht. Denn Alexanders großer Bruder Anton hat darauf geachtet, dass keiner in der Familie abtrünnig wurde.«
Häberle folgte gespannt den Ausführungen der Kirchenfrau. Sie hatte offenbar gut recherchiert und alle Hebel in Bewegung gesetzt. Wahrscheinlich war es sogar besser, sie ermittelte in Kirchenkreisen, als wenn es die Polizei getan hätte. Die Dekanin besaß gewiss genügend Durchsetzungsvermögen, um zu erfahren, was sie wissen wollte.
»Dass sie schließlich doch beide zu sogenannten Wendehälsen wurden, hat dann alle verwundert«, berichtete sie weiter. »Das muss aber erst Mitte, Ende Oktober gewesen sein, also wenige Wochen vor der politischen Wende. Da hat man sie beide bei den Montagsgebeten gesehen, wenngleich mit gemischten Gefühlen. Wer konnte damals auch schon wem trauen?«
»Sie meinen, das könnte nur Schau gewesen sein? Um auszuspionieren?«, hakte Häberle nach.
»Kann sein – muss aber nicht. Wie gesagt, damals machte es natürlich Sinn, sich rechtzeitig auf die richtige Seite zu schlagen.«
»Aber wie sie dann später hier aufgetaucht sind, haben sie sich doch beide bei der Kirche engagiert«, stellte der Chefermittler fest.
Die Dekanin nickte nachdenklich. »Sogar so sehr, dass Herr Korfus das Vertrauen der Bevölkerung gewann und in den Kirchengemeinderat gewählt wurde. Zwar nicht mit überwältigender Mehrheit – aber immerhin.«
»Also doch aus Überzeugung religiös geworden?«
»Sie fragen mich Sachen! Überzeugend religiös – das ist ein dehnbarer und relativer Begriff. Sind Sie es denn?«
Häberle hatte mit dieser Frage nicht gerechnet. Er war nicht auf ein theologisches Gespräch eingestellt. »Um religiös zu sein, muss man nicht unbedingt in der Kirche ein Ehrenamt annehmen oder jeden Sonntag in die Kirche gehen«, entgegnete Häberle. Mehr war ihm auf Anhieb nicht eingefallen, denn seine Gedanken kreisten um etwas anderes.
»Wenn es nach der Zahl derer ginge, die in den Gottesdienst kommen, wäre es um unseren Glauben schlecht bestellt«, beschied ihm die Theologin. »Die Bereitschaft, sich in der Kirche zu engagieren, ist sehr gering, das wissen wir beide. Und doch bin ich davon überzeugt, dass in den Menschen ein tiefer Glaube vorhanden ist. Sie wollen es nur nicht zeigen – nicht jetzt, solange es ihnen noch gut geht. Aber denken Sie nur mal an die Zeit, als 1989 plötzlich von den Kirchen ausgehend eine Bewegung in Gang kam, mit der niemand gerechnet hätte. Plötzlich haben die Menschen die große Macht entdeckt, die allein etwas zu ändern vermag, wenn wir sie nur darum bitten.«
Genau das hatte Häberle schon oft gedacht. Auch ihm war während seines langen Berufslebens oftmals klar geworden, dass Menschen in Todesangst oder im Augenblick allergrößter Schicksalsschläge plötzlich anfingen, von Gott zu reden oder zu beten. Und dabei spielte es dann gar keine Rolle, ob sich ihre Hoffnung auf Jesus richtete oder auf einen anderen Gott, dessen Namen zwar je nach religiöser Zugehörigkeit und Weltanschauung variierten, doch im Grunde genommen nur eines war: die große Macht, die hinter allem steckte. Häberle hatte schon oft darüber nachgedacht, wie hirnrissig es war, dass sich Menschen dieses Gottes wegen gegenseitig totschlugen. Dabei hatte keiner von ihnen jemals seinen Gott gesehen oder jemals einen handfesten Beweis erbringen können, dass all die Geschichten, Legenden,
Weitere Kostenlose Bücher