Schattennetz
Alter? Na ja, mittel würd ich sagen. Mittel bis jünger.«
»Statur?«
»Groß, würd ich sagen. Mittelmäßig. Jedenfalls nicht korpulent.« Die Kirchenfrau antwortete sachlich und kühl, als läge das Geschehen schon Tage zurück.
»Hat er Sie denn an jemanden erinnert? Von der Art, wie er sich bewegt hat – oder wie er durchs Fenster geklettert ist.«
»Er war flink, ja, das kann man so sagen. Flink und sportlich.«
»Sie haben mir gestern Abend erzählt, dass Sie in Kirchenkreisen recherchiert hätten. Halten Sie es für möglich, dass jemand Ihre Aufzeichnungen, Briefe, Dokumente oder Akten beseitigen wollte?«
»Was soll ich dazu sagen? Ich sagte Ihnen ja bereits, dass wir viel rumtelefoniert haben. Wenn da jemand glaubt, wir hätten uns hier Akten angelegt, mag das für den einen oder anderen unangenehm sein.«
»Und Akten über Kirchengemeinderäte?«
»Ein paar Personaldaten, natürlich. Aber doch sicher nichts, was einen Einbruch mit Brandstiftung rechtfertigen könnte.«
Häberles Kollege hielt sich zurück. Er verfolgte das Gespräch interessiert, während draußen auf dem Flur heftig über die aufgefundenen Gegenstände diskutiert wurde.
»Es gibt also auch eine Akte von Torsten Korfus?«, hakte Häberle nach.
»Was heißt Akte?«, entgegnete die Dekanin. »Ein bisschen Lebenslauf …«
»Haben Sie das gerade zur Hand?«
Sie überlegte einen Moment, erhob sich und zog aus der gegenüberliegenden Regalwand einen Ordner heraus. Sie brachte ihn zum Schreibtisch zurück und fand nach kurzem Blättern die entsprechenden Papiere. »Hier. Die wichtigsten Daten. Da steht nichts drin, was ihn verdächtig machen könnte. Ich hab das die letzten Tage bereits studiert.«
Häberle zog den Ordner zu sich her und blätterte weiter. »Geht denn etwas daraus hervor, was auf Stumpers gestrige Behauptung schließen ließe?«
»Sie meinen die Sache mit dem Henker?« Sie ließ durch die Betonung erkennen, dass sie dieses Wort nur ungern aussprach.
»Zum Beispiel.«
»Wenn Sie manche Formulierung unter diesem Gesichtspunkt auf sich wirken lassen, hört sie sich natürlich anders an«, meinte die Theologin und blätterte nun ihrerseits weiter. »Hier. Da steht, dass er eine verantwortungsvolle Aufgabe innegehabt habe, die – ich zitiere – höchste Konzentration und Souveränität erfordert habe. Was immer sich dahinter verbergen mag.«
Sie ließ den aufgeklappten Ordner liegen und setzte sich wieder auf ihren Stuhl.
»Es ist ja auch nicht auszuschließen, dass jemand hier von meinen Nachforschungen erfahren hat«, überlegte sie. »Man hat vielleicht beiläufig eine Bemerkung gemacht – und irgendjemand hat seine Rückschlüsse gezogen.«
Häberle stutzte. Wie recht die Frau doch hatte.
Der Chefermittler war hundemüde. Es war kurz nach fünf, als er im Morgengrauen wieder heimwärts fuhr. Auf der B 10 machte sich bereits der Berufsverkehr bemerkbar. Häberle malte sich aus, welch gewaltige Anstrengung es sein würde, in Richtung Osten weiterzufahren. Er brauchte dringend einen starken Kaffee. Das Schlimmste für ihn war bei langen Fahrstrecken auf der Autobahn der Kampf mit dem Einschlafen. Obwohl er wusste, wie lebensgefährlich es sein konnte, auch nur für den Bruchteil einer Sekunde die Augen zu schließen, wollte er seinen Plan nicht verwerfen. Er hatte sich telefonisch angekündigt – und wenn die Spuren im Osten zusammenliefen, wonach es aussah, dann duldete dies keinen Aufschub. Jetzt war die Zeit reif, davon war er felsenfest überzeugt. Susanne versuchte ihm zwar noch die Bahn schmackhaft zu machen, doch hätte er in diesem Fall schon einen der ersten Züge nehmen müssen. Er ließ sich nicht umstimmen. Auch Susanne wusste dies. Wenn sich August etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte er es auch aus.
Es war 6.30 Uhr, als er frisch geduscht das Haus verließ, den kleinen Koffer auf den Rücksitz des Audis warf und seiner Frau zum Abschied noch ein Lächeln schenkte. Spätestens am Sonntag wollte er wieder zurück sein.
Der Morgen war kühl, die Albkante noch in sanften Nebel gehüllt. Über Süßen und Böhmenkirch steuerte er Aalen an, um das herum eine neue, aber schmale Umgehungsstraße führte, vorbei an Wasseralfingen und zur Anschlussstelle Westhausen der Autobahn A 7. Als er in Richtung Würzburg einfuhr, schien die Morgensonne durch das rechte Seitenfenster. Häberle trat das Gaspedal durch, ging auf die linke Spur und jagte den Audi mit 160 km/h nordwärts. Solange er sich
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