Schattensturm
»Aber wenn du extra gewartet hast, tut es mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Ich bin nicht Gudrun. Mein Name ist Veronika.«
Der Mann sah auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Er hatte kantige Gesichtszüge, an den Schläfen hervortretende Kaumuskeln und braune Augen. Der Rest seines Gesichts war unter einem Siebentagebart verdeckt. Der ernste Gesichtsausdruck wich einem breiten Grinsen. »Willst du wetten?«
»Worauf? Darauf, dass ich Veronika heiße?«
»Nein. Darauf, dass du nicht Gudrun heißt.«
»Das ist das Gleiche.«
»Oh, ich glaube nicht. Was ist nun? Ich wette mit dir, dass du in zwei Tagen auf den Namen Gudrun hören wirst!« Er legte das Instrument zur Seite, das bei näherer Betrachtung gar nicht mehr aussah wie eine Gitarre, eher wie einer ihrer historischen Vorläufer. Dann sprang er auf und streckte ihr die Hand entgegen, so dass unter dem Ärmel seines Hemds eine breite Unterarmschiene aus Messing zum Vorschein kam. »Schlag ein, wenn du mir nicht glaubst. Was kannst du verlieren?« Er war nicht viel größer als sie selbst, doch wo sie schlank war, war er athletisch und muskulös.
Sie zuckte mit den Schultern. »Weißt du, ich fürchte, dass ich dich in zwei Tagen längst ausgeträumt und vergessen habe.«
Das Grinsen verschwand, als er die Lippen schürzte und die Augenbrauen nach oben zog. »Wie, vergessen? Ich wäre sehr enttäuscht, wenn du mich vergessen würdest! Aber wenn du dir da so sicher bist, solltest du wetten!«
»Und um was wollen wir wetten?«
Plötzlich war sein Grinsen wieder da. »Um einen Kuss natürlich! Was sollte ein Mann sich sonst von einer holden Maid wünschen?«
Veronika musste lachen. »Und was würdest du dagegen setzen?«, fragte sie neugierig. Der Mann war nicht unattraktiv. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen so realistischen Traum gehabt.
»Ha, das ist einfach!« Er drückte die Brust nach vorne und streckte das Kinn in die Luft, ganz die Erobererpose, die er noch dadurch unterstrich, dass er die rechte Hand nach links unter den Umhang steckte. »Einen Kuss von
mir
natürlich!« Dabei sah er so ernst aus, dass Veronika noch mehr lachen musste.
»Egal, wie es läuft, ich muss dich also küssen, was?«
Seine Pose fiel von ihm ab, als er zerknirscht zugab: »Okay, du hast mich also durchschaut. Aber mal ehrlich, es wäre eine Gewinnsituation für uns beide, oder nicht?«
»Warum sollte ich einen …« Sie ließ ihren Blick an ihm herabgleiten. »… einen
Barbaren
küssen wollen?«
»Ach, komm, das ist nicht fair! Ich habe mich jeden Tag gewaschen, seitdem ich hier auf dich warte! Ich habe mir sogar frische Unterwäsche angezogen, als ich davon erfahren habe, dass man dich hierher bringt!«
»Oh, großartig! Und wann war das?«
»Na, letzte Woche!«
Sie verzog spielerisch das Gesicht, obwohl sie bisher noch nicht gerochen hätte, dass er stank. »Na, welch ein Vorbild der Körperhygiene!«
»Warte nur! Wenn du das Lager gesehen hast, wirst du dich an meine Worte erinnern! Was ist nun, gilt die Wette oder nicht?«
Erneut streckte er ihr die Hand entgegen. Veronika ergriff sie, mit dem Hintergedanken, dass es ohnehin nicht mehr war als ein Traum – wenn auch von einer etwas abwegigeren Variante.
»Hervorragend!« Seine Augen leuchteten. »Ich kann dir sagen, Gudrun, dass ich wahrscheinlich nicht mehr schlafen kann bis dahin!«
»Veronika«, verbesserte sie ihn automatisch. »Wie kommst du eigentlich auf die Idee, ich sollte Gudrun heißen?«
Der Mann grummelte: »Weil du eine Germanin bist und einen germanischen Namen brauchst, Veronika aber nur so ein mistiger Christenname ist, den keiner haben will.«
»Ach, sieh einer an. Und wie heißt du dann? Wolfram?«
»Oh, Wolfram! Was für ein Klischee!« Er sah pikiert zur Seite.
»Also gut, ich habe keine Lust mehr auf Raten. Willst du mir sagen, wie du heißt, oder sollen wir es beim ›Hey, du!‹ belassen?«
»Ich heiße Wolfgang.«
Aber Wolfram ist also ein Klischee …
Veronika versuchte, sich das Lachen zu verkneifen, aber es gelang ihr nicht. Glucksend brach es aus ihr heraus, was Wolfgang nur noch empörter dreinblicken ließ.
»Nach den Wölfen, die Wotan begleiten«, erklärte er. »Gudrun bedeutet übrigens
die, die die Geheimnisse des Kämpfens kennt
. Ein treffender Name, findest du nicht?«
Veronika wollte beinahe schon über das »die, die die« lachen, das sie an Morsecode erinnerte, doch als sie den Rest des Satzes hörte, hielt sie inne. »Was meinst du
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