Scheintot
auch niemals erschossen!
Aber das hier war kein Film, und sie konnte nicht voraussagen, was die wahnsinnige Lady mit der Pistole als Nächstes tun würde. Diesen Namen hatte Jane ihr gegeben: die wahnsinnige Lady. Wie sonst sollte man eine Frau nennen, die unentwegt auf und ab tigerte und dabei mit der Knarre herumfuchtelte? Nur ab und zu blieb die Frau stehen, um einen Blick auf den Fernseher zu werfen. Channel Six war eingeschaltet – die Liveberichterstattung über das Geiseldrama in der Klinik. Sieh mal, Ma, ich bin im Fernsehen, dachte Jane. Ich bin eine von den Glücklichen, die in dem Gebäude da festsitzen. Es war wie eine Reality-Show vom Typ
Survivor,
nur mit echten Kugeln.
Und mit echtem Blut.
Ihr fiel auf, dass die wahnsinnige Lady wie sie selbst ein Patientenarmband trug. Aus der Psychiatrischen entwischt? Na, versuch mal, die dazu zu bringen, ganz brav im Rollstuhl zu sitzen! Die Frau war barfuß, und ihr wohlgeformter Po lugte aus dem rückenfreien Krankenhauskittel hervor. Sie hatte lange Beine, muskulöse Oberschenkel und eine üppige, pechschwarze Mähne. In ein sexy Lederoutfit gesteckt, hätte sie als Xena, die Kriegerprinzessin, durchgehen können.
»Ich muss pinkeln«, sagte Mr. Bodine.
Die wahnsinnige Lady würdigte ihn nicht einmal eines Blickes.
»He! Hört mir vielleicht mal jemand zu? Ich sagte, ich muss
pinkeln!
«
Herrgott noch mal, dann tu’s halt, Alter, dachte Rizzoli. Pinkel in deinen Rollstuhl, aber hör auf, eine Frau zu nerven, die eine geladene Knarre in der Hand hat.
Auf dem Fernsehbildschirm erschien eine blonde Reporterin. Zoe Fossey berichtete live aus der Albany Street.
»Wir haben noch nicht in Erfahrung bringen können, wie viele Geiseln in dem Klinikflügel festgehalten werden. Die Polizei hat das Gebäude abgeriegelt. Bisher hat es ein Todesopfer gegeben; einen Wachmann, der beim Versuch, die Patientin zu überwältigen, erschossen wurde …«
Die wahnsinnige Lady hielt inne und fixierte den Bildschirm mit starrem Blick. Einer ihrer nackten Füße landete auf dem Schnellhefter, der auf dem Boden lag. Jetzt erst bemerkte Jane den Namen, der mit schwarzem Filzstift auf den Deckel der Patientenakte geschrieben war.
Rizzoli, Jane.
Die Nachrichtensendung war zu Ende, und die Wahnsinnige begann wieder auf und ab zu gehen. Immer wieder klatschten ihre Fußsohlen auf den Schnellhefter. Es war Janes Ambulanzakte, die Dr. Tam vermutlich dabeigehabt hatte, als sie die Bilddiagnostik betreten hatte. Jetzt lag sie direkt vor den Füßen der Wahnsinnigen. Sie musste sich nur bücken, den Deckel aufschlagen und die erste Seite lesen, wo die Patienteninformationen aufgeführt waren. Name, Geburtsdatum, Familienstand, Sozialversicherungsnummer.
Und Beruf.
Detective, Mordkommission, Boston Police Department.
Diese Frau wird gerade vom Sondereinsatzkommando der Bostoner Polizei belagert, dachte Jane. Wenn sie herausfindet, dass auch ich Polizistin bin …
Sie wollte den Gedanken gar nicht zu Ende denken; sie wusste schon, wohin er führen würde. Wieder fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk, auf das Patientenarmband mit der Aufschrift RIZZOLI, JANE. Wenn sie sich doch nur von dem Ding befreien könnte – dann könnte sie es zwischen die Kissen stopfen, und die wahnsinnige Lady hätte keine Möglichkeit mehr, sie mit der Patientenakte in Verbindung zu bringen. Das war es, was sie jetzt tun musste: dieses gefährliche Namensarmband so schnell wie möglich loswerden. Dann wäre sie nur noch eine von vielen schwangeren Frauen in diesem Krankenhaus. Und keine Polizistin mehr, keine Bedrohung.
Sie steckte einen Finger unter das Armband und zog daran, doch es gab nicht nach. Sie zog fester, aber es gelang ihr nicht, es zu zerreißen. Was war das eigentlich für ein Material – Titan? Aber es musste natürlich stabil sein. Man musste schließlich verhindern, dass verwirrte alte Knacker wie Mr. Bodine sich das Armband abrissen und dann unerkannt durch die Krankenhausflure irrten. Sie zerrte mit aller Kraft an dem Plastikband, mit zusammengebissenen Zähnen und heimlich angespannten Muskeln. Ich werde es wohl abbeißen müssen, dachte sie. Wenn die wahnsinnige Lady mal nicht hinschaut, könnte ich …
Sie erstarrte, als sie plötzlich merkte, dass die Frau unmittelbar vor ihr stand. Ein nackter Fuß ruhte wieder genau auf Janes Patientenakte. Ganz langsam hob Jane den Blick zum Gesicht der Frau. Bis zu diesem Moment hatte sie es vermieden, die Geiselnehmerin direkt anzusehen, weil
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