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Scherbenherz - Roman

Scherbenherz - Roman

Titel: Scherbenherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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blätterte planlos durch die Seiten, von denen eindeutig der Geruch schalen Biers aufstieg. Ihr Blick fiel auf die Story über ein unwichtiges Mitglied der Königsfamilie auf der dritten Seite, das eine Expedition zum Kilimandscharo für wohltätige Zwecke unternommen hatte. Außerdem gab es die üblichen langweiligen Meldungen über U-Bahn-Streiks und kontroverse städteplanerische Konzepte. Es dauerte nicht lange, bis ihr nichts anderes mehr übrig blieb, als das Kreuzworträtsel auf der letzten Seite zu lösen. Nachdem sie auch das hinter sich gebracht hatte, begann sie mit dem Sudoku, kam jedoch nicht weit. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Sie sah erneut auf die Uhr. Zehn vor acht. Charlotte wurde immer gereizter, was kein gutes Zeichen war. Ihre schlechte Laune drohte, den Abend schon von Beginn an zu verpatzen. Sie kannte sich: Wenn sie sich erst in etwas hineinsteigerte, dauerte es nicht lange und sie spielte verrückt. Sie malte sich dann automatisch die schlimmsten Szenarien aus. Das wiederum verstörte sie, weckte ihr Misstrauen und machte sie gleichzeitig traurig und wütend. Um fünf vor acht kam Gabriel mit einem kalten Windhauch durch die Tür, ließ seinen Blick gestresst durch den Raum schweifen, das Haar vom Wind zerzaust, den Regenmantel unordentlich zugeknöpft.
    Dann sah er sie und lächelte. Seine Haltung entspannte sich.
    »Ah, da bist du ja«, seufzte er und ging zu ihr. »Tut mir schrecklich leid.«
    »Schon in Ordnung«, sagte Charlotte und wusste, dass ihre Stimme das Gegenteil verriet.
    »Was trinkst du?«
    »Farbverdünner.«
    Er lächelte gequält. »Herrje. Kann ich dir was anderes bestellen?«
    »Nein, nicht der Mühe wert. Hat mich schließlich fast vier Pfund gekostet. Ich ziehe das jetzt durch.«
    Er wirkte erleichtert. Die Atmosphäre entspannte sich etwas.
    »Gut. Ich gehe nur schnell zur Toilette und hole mir dann noch einen Drink.« Er zog den Mantel aus, warf ihn auf die Bank neben Charlotte und beugte sich zu ihr, um sie auf die Lippen zu küssen. »Hallo, meine Schöne«, murmelte er, und Charlotte wurde es warm. Sie lächelte. Der Abend war gerettet.
    »Hallo, du.«
    Gabriel ging zu dem winzigen Anbau an der Rückseite des Schankraums, der als Toilette diente, und Charlotte entdeckte, dass er seine Aktentasche neben ihr auf der Bank abgestellt hatte. Sie war geöffnet. Drinnen steckte ein Buch. Da sie noch immer nach Lesematerial suchte, nahm sie es heraus. Es war eine gebrauchte Ausgabe von Charles Dickens Große Erwartungen . Der Titel glänzte in schwarzer Groteskschrift auf rot-weißem Umschlag. Sie schlug den Band auf. Auf dem Deckblatt stand in der oberen rechten Ecke in Bleistift »5.50 Pfund«. Sie blätterte um, und ihr Magen verkrampfte sich. Etwas schnürte ihr die Kehle zu.
    »Meinem geliebten Gabriel«, lautete die handgeschriebene Widmung. »Zur Erinnerung an unser feuchtes Wochenende in Cornwall vor dem warmen Kamin. Und damit du nie vergisst, wie sehr ich dich liebe. Auf ewig deine dich liebende Frau Maya.«
    Die Handschrift in schwarzer Tinte war schwungvoll und flüssig, die Buchstaben hoben sich elegant vom bräunlich gelben Papier ab. Es war eine schöne, gepflegte und gleichzeitig lässige Handschrift. Es war die Art von Handschrift, die Charlotte gern gehabt hätte, die Sorte, die ihr automatisch das Gefühl von Unterlegenheit vermittelte. Sie wusste, dass es lächerlich war. Aber angesichts dieser Widmung und all der intimen Anspielungen, die sie beinhaltete, wünschte Anne, sie könne Mayas Handschrift einfach ignorieren. Hätte diese Handschrift teenagerhaft gewirkt, wären die »I’s« mit kreisrunden Kringeln versehen, die Buchstaben eckig und ungelenk gewesen, hätten sie sachlich und unromantisch gewirkt, hätte Charlotte sie als weniger bedrohlich empfunden. Stattdessen schien sie gleichermaßen elitär und intelligent. Unter dem Namen stand dreimal der Buchstabe X, was drei Küsse bedeutete, die Charlotte wie eine Salve aus einer automatischen Pistole vorkamen.
    »So, da bin ich wieder«, sagte Gabriel in diesem Moment, stellte die Drinks auf den Tisch und rutschte neben sie auf die Bank. Dann fiel sein Blick auf das aufgeschlagene Buch und zwangsläufig auf die Widmung. Er schluckte hörbar, schien hastig zu überlegen, ob er etwas falsch gemacht haben könnte, trank einen Schluck Bier, um Zeit zu gewinnen. Das Bier hinterließ eine schmale Schaumspur über seiner Oberlippe, wie der Saum aus weißen Luftblasen einer Welle am

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