Schmetterlinge im Gepaeck

Hälfte meines genetischen Codes »Loser« festgeschrieben ist. Das passt. Das ist die einzige Erklärung für jemanden, der nichts auf die Reihe kriegt. Wahrscheinlich war ihre Mutter sturzbetrunken, während sie Lola im Bauch hatte . Dabei ist das nur die halbe Wahrheit. Ich bin kein halber Loser, sondern ein ganzer. Ich entstamme zu hundert Prozent dem Abschaum der Straße.
    Andy klopft an meine Tür. »Lo? Darf ich reinkommen?«
    Ich antworte nicht.
    Er fragt noch einmal, und als ich wieder keine Antwort gebe, sagt er: »Ich komme jetzt rein.« Meine Tür geht auf. »Oh, Liebling.« Seine Stimme klingt todtraurig. Er setzt sich auf meine Bettkante, legt eine Hand auf meinen Rücken und ich breche in Tränen aus. Er nimmt mich in die Arme und hält mich fest, und ich fühle mich klein und hilflos, während ich in seinen Ärmel hineinweine.
    Â»Sie ist so peinlich. Ich hasse sie.«
    Er umarmt mich fester. »Das tue ich manchmal auch.«
    Â»Was passiert jetzt mit ihr?«
    Â»Sie bleibt eine Weile hier.«
    Ich löse mich von ihm. »Wie lange denn?« Ich habe einen roten Lidschattenfleck auf seiner Schulter hinterlassen. Ich versuche, ihn wegzuwischen, aber Andy nimmt sanft meine Hand. Das Hemd ist egal.
    Â»Nur ein oder zwei Wochen. Bis wir eine neue Wohnung für sie gefunden haben.«
    Ich betrachte meine roten Fingerspitzen und ärgere mich, dass mich Norah wieder mal zum Weinen gebracht hat. Ich ärgere mich, dass sie bei mir zu Hause ist. »Sie interessiert sich doch gar nicht für uns. Sie ist bloß hier, weil ihr nichts anderes übrig bleibt.«
    Andy seufzt. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als ihr zu helfen, oder?«
    Draußen wird es dunkel. Ich rufe Lindsey an.
    Â»Gott sei Dank! Cricket hat schon vor zwei Stunden angerufen und ich habe mir solche Sorgen gemacht. Geht es dir gut? Soll ich rüberkommen? Möchtest du zu mir kommen? Wie schlimm ist es denn?«
    Die Nachricht explodiert in meinem Kopf. »Cricket hat dir davon erzählt?«
    Â»Er war beunruhigt. Ich bin beunruhigt.«
    Â» Cricket hat dir davon erzählt?«
    Â»Er hat im Restaurant angerufen, meinen Eltern seine Nummer gegeben und mir ausrichten lassen, dass ich zurückrufen soll. Er hat gesagt, es sei ein Notfall.«
    Ich umklammere mein Handy fester. »Dann hast du sie gar nicht gesehen? Oder gehört? Oder es von jemand anderem erfahren?«
    Erst jetzt begreift Lindsey, was mein Problem ist. Ihre Stimme wird sanfter. »Nein. Ich habe nichts in der Nachbarschaft gehört. Ich glaube nicht, dass jemand sie bemerkt hat.«
    Und ich bin so erleichtert darüber, dass Kummer und Enttäuschung wieder über mich hereinströmen. Nach fast einer Minute Schweigen fragt mich Lindsey noch einmal, ob ich zu ihr kommen möchte. »Nein«, antworte ich. »Aber vielleicht komme ich morgen darauf zurück.«
    Â»Aber sie war doch nicht … Oder?«
    Ich weiß genau, was sie sagen will. »Nicht betrunken, nicht high. Einfach nur Norah.«
    Â»Na ja«, sagt Lindsey. »Das ist doch schon mal was.«
    Aber es ist demütigend genug, dass sie danach fragen musste. Jemand klopft in der Leitung an. Es ist Max. »Ich muss Schluss machen.« Ich nehme das Gespräch mit Grauen an. Eine Vision von meinem Freund beim Brunchen mit Norah kommt mir in den Sinn. Das Ganze wird seine Beziehung zu meiner Familie noch zusätzlich belasten. Was wird er von ihr halten? Wird sich das auf seine Meinung über mich auswirken? Und was ist, wenn … wenn er etwas von mir in Norah wiederfindet?
    Â»Ich hab dich vermisst«, sagt er. »Kommst du heute Abend zum Konzert?«
    Das habe ich ganz vergessen. Ich war so auf das Konzert gestern Abend fixiert, dass ich gar nicht daran gedacht habe, dass er heute pünktlich zu einem weiteren Konzert zurück sein muss. Ȁhm, ich glaube nicht.« Die Tränen steigen bereits in mir auf. Nein, nein, nein. Nicht weinen. Für heute habe ich genug geweint .
    Ich höre förmlich, wie er sich aufsetzt. »Was ist los?«
    Â»Norah ist hier. Sie bleibt bei uns.«
    Stille. Und dann: »Shiiiit.« Er sagt es, als würde er dabei ausatmen. »Das tut mir leid.«
    Â»Danke. Mir auch«, füge ich hinzu.
    Er gibt ein kurzes, verächtliches Prusten von sich, und dann staune ich, wie wütend er wird, als ich ihm die ganze Geschichte erzähle.