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Schneckenmühle

Schneckenmühle

Titel: Schneckenmühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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bei uns im Wohngebiet. Sie sind etwas kleiner als die aus Holz. Man muß die Unebenheiten in der Fläche einkalkulieren. Ich verbringe eigentlich meine halben Ferien an den Tischtennisplatten vor dem Haus, ich renne nur schnell hoch, wenn etwas im Fernsehen kommt. Mit Wolfgang wähle ich eine größere Herausforderung, wir spielen aus Langeweile an der kaputten Platte, von der nur noch die beiden Füße stehen, die Fläche fehlt. Auf einer der fünf Zentimeter schmalen Stützstreben spielen wir uns den Ball hin und her, nach einer Weile schaffen wir sogar mehrere Ballwechsel.
    «Meinst du, Wulf ist jetzt wirklich im Westen?»
    «Dumm genug wäre er ja.»
    «Wieso? Der macht doch seinen Doktor.»
    «Aber hier bricht alles zusammen.»
    Mir ist das unangenehm, wenn so geredet wird, als stände ein Ereignis bevor, das viel verändern wird.
    «Und der 1-Megabit-Chip?»
    «Und das Mooresche Gesetz?»
    «Immerhin gibt es bei uns keine Obdachlosen.»
    «Dafür regnet es rein.»
    «Aber wir sind für den Frieden.»
    «Du denkst bestimmt auch, man kann ein BMX-Rad bauen, indem man von seinem Klapprad die Schutzbleche abschraubt.»
    Tatsächlich hatte ich das bei meinem Fahrrad gemacht.
    «Es müßte sich eben irgendwie alles ändern.»
    «Es ändert sich doch dauernd was. Als Breschnew gestorben ist, ist die FUWO nicht mit rotem, sondern mit schwarzem Schriftzug erschienen, und das blieb dann für immer so. Wahrscheinlich wollten sie rote Farbe sparen. Dann war immer die Stempelfarbe von den Fahrkartenlochern alle. Also Locher waren es ja früher, und dann wurden die Stempel eingeführt, bei denen mußte man auf einen Knopf hauen und konnte noch was rausholen, wenn man stärker zuschlug, aber jetzt gehen sie automatisch und haben meistens keine Farbe mehr. Vor zwei Jahren ist dann beim S-Bahnhof Schönhauser ein Stück vom Dach eingekracht. Dann haben sie diese Bande gefangen, die immer Nuth geschnüffelt hat. Und der Akademie-Vizepräsident ist erwischt worden, als er in Westberlin im Kaufhaus einen Duschkopf klauen wollte. Dann kam der Teufelssaucen-Fall, mit dem Imbiß-Besitzer, der allen zuwenig Sauce gegeben hat und sich damit eine goldene Nase verdient hat, komischerweise hat das in der Zeitung gestanden, warum? Und Silvester ist im Prenzlauer Berg einBalkon runtergekracht. Die haben Wunderkerzen abbrennen wollen und sind alle tot gewesen, oder sie hatten einen Riß in der Leber oder so. Und neuerdings gibt es immer mehr Sachen mit Maracuja-Geschmack, da überlege ich noch, was es bedeutet. Außerdem hat Günter Mittag Zucker und zwei Beinprothesen, das hat mir mein Vater erzählt. Und dieses Jahr hat Dschamolidin Abduschaparow die Siegerehrung der Zieletappe bei der Friedensfahrt boykottiert, weil er der Meinung war, beim Zieleinlauf zu Unrecht disqualifiziert worden zu sein. Das hätte sich früher nie einer getraut. In Bernau soll es Punker geben, die Harry Jeske als Teufel anbeten. Und als in Schönefeld dieses Flugzeug abgestürzt ist, weil Benzin in die Düse gekommen ist, haben die Leute die Leichen gefleddert. Das hat uns unser Werken-Lehrer erzählt, der in Bohnsdorf wohnt. Und jetzt ist Erich Honecker zum ersten Mal im Leben krank.»

18 Zum Kaffee gibt es Stullen mit Marmelade und Muckefuck. Wir bleiben danach auf der Brücke, wo wir uns jetzt gerne aufhalten, wenn die Basteltante Brückendienst hat, jeder möchte den beleuchteten Verkehrsstab haben. Mit Büchern unterm Ellbogen gewinnt sie sogar gegen Männer beim Armdrücken. Ich wolle auf keinen Fall «normal» sein, sage ich zu ihr. Man müsse doch «in Extremen leben». Ich kann gar nicht mehr aufhören zu reden, dabei spüre ich, wie ich Sachen sage, die etwas gewagt sind, aber ich habe auch ein Gefühl dafür, bei wem man wie weit gehen kann mit seinen Äußerungen. Daß man zugibt, Westen zu gucken oder sogar an das zu glauben, was dort gesagt wird. Man muß genau aufpassen, wieviel man bei jedem durchblicken läßt, aber das siehtman dem anderen schon an der Kleidung und an der Frisur an. Der Basteltante verrate ich, daß ich Comics habe und daß mein Onkel aus Rendsburg in der DDR Atemprobleme bekommt. Daß ich beim letzten Besuch meines West-Cousins nicht glauben konnte, daß er keinen einzigen Fußballspieler aus der Oberliga kannte. Wie man die Welt retten könnte, daß der saure Regen mir Sorgen macht. Einmal dachte ich schon, der Weltuntergang sei da, weil die Pfützen in Buch nach dem Regen einen gelben Rand hatten, aber das kam gar nicht vom

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