Schneewittchens Tod
aber .«
»Er weiß Bescheid«, erklärte Gaelle wie eine perfekte Privatdetektivin. »Lassen Sie sich nicht stören.«
Sie zog Chib mit in die Halle und ließ die Osmonds stehen, die völlig verblüfft, aber zu höflich waren, Fragen zu stellen. Sie begrüßten diskret Aicha, die im Fernsehzimmer Staub wischte, und trennten sich. Gaelle wollte das Arbeitszimmer des Hausherrn inspizieren, Chib die Bibliothek. Aber was suchen wir eigentlich, fragte sich Chib, als er das Zimmer betrat, durch dessen Fensterläden gedämpftes Licht drang. Er strich mit der Hand über den Rücken alter ledergebundener Bücher. Shakespeare. Hm. Er betrachtete das Schachbrett. Er konnte nicht spielen, sonst hätte er eine der Figuren in der angefangenen Partie verschieben können, so, wie man es in Krimis sieht. »Diese vor zwei Jahren begonnene Partie löse ich im Handumdrehen. Sie sind schachmatt, mein Bester!« Er ging zum Billardtisch und stieß ein paar Kugeln mit dem Queue an, doch der Lärm schien ihm in der Stille zu laut. In der Ecke ein Sekretär. Er zog die Mahagonischubladen auf. Nichts als Aktendeckel aus Pappe: Strom, Telecom, Urlaub usw., Papiere, Prospekte, Kalender, in denen Blanche Termine und Geburtstage notiert hatte. Sie hatte eine kleine, spitze Handschrift, altmodisch. Elilou Zahnarzt, las er. Er sah auf das Datum: Mittwoch, 28. April 2002. In wenigen Tagen also.
Er blätterte noch eine Weile in dem Terminkalender, aber es gab natürlich keine Eintragungen in dem Stil: Elilou wieder von John Osmond vergewaltigt; wurden von einem suspekten Individuum verfolgt, das unter seinem Regenmantel nackt war.
Er richtete sich auf und schloss die Schubladen. Auf dem Sekretär stand ein Foto in einem Holzrahmen. Ähnlich wie das, das Blanche ihm am ersten Tag gezeigt hatte. Die ganze Familie, diesmal die Mutter eingeschlossen, mit strahlendem Lächeln, der Wind spielte mit den blonden Haaren. Er griff danach und war so überrascht, dass er es beinahe hätte fallen lassen. Seine Hand hatte etwas Klebriges berührt. Vorsichtig drehte er das Foto um. Die Rückseite des Rahmens war mit einer dickflüssigen, weißen Substanz überzogen, die er auf den ersten Blick identifizieren konnte. Sperma! Man hatte auf das Bild masturbiert, sagte er sich und stellte es angewidert zurück.
Wieder dieses unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Er fuhr herum. Doch da war niemand. Er richtete seine Aufmerksamkeit erneut auf das besudelte Foto. Ein Familienfest. Plötzlich war es, als nähme der Vergewaltiger wirklich Gestalt an. Es waren keine Vermutungen, keine Hirngespinste mehr, es war ein Mann aus Fleisch und Blut, eine schwere Masse, die das Kind erdrückte, in es eindrang und Schmerz und Angst weckte. Es waren die keuchenden, kurzen Atemstöße von jemandem, der seine bestialischen Begierden befriedigte, selbst wenn er ihr Objekt schon getötet hatte. Ja, ein Wesen aus Fleisch und Blut, dessen Seele an einen finsteren Wald erinnerte, undurchdringlich, kalt und erstickend zugleich, ein Wald ohne Licht, ohne Ausweg, dessen Bäume sich neigten, um einen zu erdrosseln.
Er hob den Kopf und wischte sich die Stirn ab. Er schwitzte, als hätte er plötzlich einen Flash gehabt, eine Vision. Er blinzelte, um sich von dem Gefühl des Erstickens zu befreien. Das Zimmer nahm wieder Gestalt an, seine teure Banalität.
Ein Mann, der mit den Andrieus vertraut genug war, um sich allein in der Bibliothek aufzuhalten. Der wusste, dass er genug Zeit hatte, um einen sexuellen Akt zu vollziehen. Es war schwer, nicht an Andrieu selbst zu denken. Oder an Pater Dubois.
»Suchen Sie etwas?«
Belle-Mamie stand kerzengerade in ihrem malvenfarbenen Jogginganzug auf der Schwelle, im Haar ein passendes Band.
»Ich warte, dass Madame Andrieu ihr Gespräch mit ihren Freunden beendet«, improvisierte er und dachte nervös an Gaelle, die Jean-Hugues Arbeitszimmer durchsuchte.
»Wollen Sie etwas Besonderes mit ihr besprechen?«
Ja, ich wollte wissen, wann wir es wieder treiben können.
»Ihr Sohn hat Madame Holzinski und mich gebeten, die Untersuchungen fortzuführen.« »Ich bezweifele, dass Sie etwas gefunden haben. Das ist ein Fall für die Polizei.«
»Sicherlich, aber hier treffe nicht ich die Entscheidungen«, antwortete er und sagte sich, dass Andrieus Starrsinn, die Polizei nicht einschalten zu wollen, plötzlich verdächtig schien.
Belle-Mamie zog eine ihrer noblen Brauen hoch, und ihre Augen, die so blau waren wie die ihres Sohnes, fixierten ihn
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