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Schnitt: Psychothriller

Schnitt: Psychothriller

Titel: Schnitt: Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Raabe
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später nie wieder aufgebaut. Der Westflügel beherbergte damals wie heute die Verwaltung.
    Drei Tage vorher hat Gabriel mit pochendem Herzen dort angerufen und sich unter dem Namen eines Patienten gemeldet, an den er sich noch erinnern kann.
    Â»Wie, sagten Sie, ist Ihr Name?«, hatte die Verwaltungsangestellte gefragt.
    Â»Bügler. Johannes Bügler. Ich war von 1984 bis 1987 in der Conradshöhe.«
    Â»Hm. Moment … Ah! Da sind Sie ja. Bis 1988 waren Sie hier, nicht ’87.«
    Â»Stimmt, natürlich. Haben Sie die Akte noch?«
    Â»Wissen Sie, wie lange das her ist? Die Mindestaufbewahrungszeit für Behandlungsunterlagen ist –«
    Â»Elf Jahre, ja, ich weiß. Vielleicht könnten Sie trotzdem nachsehen, ob Sie die Akte noch haben?«
    Â»Sie haben Nerven. Da muss ich erst mal nachfragen, ob wir überhaupt verpflichtet sind, Ihnen unsere Unterlagen auszuhändigen.«
    Â»Also ist die Akte noch da?«
    Â»Das habe ich nicht gesagt, aber … wenn dem so ist, dann darf ich sie sicher nicht herausgeben.«
    Â»Das wundert mich, immerhin ist es doch meine Akte.«
    Â»Ich bin sicher, das sieht Professor Wagner anders«, sagte sie spitz.
    Professor Wagner. Das unscharfe Bild eines kahlköpfigen untersetzten Mannes mit Kinnbart erschien vor seinem inneren Auge. Wagner war damals Dr. Dresslers Nachfolger gewesen, und Gabriel war ihm nur drei- oder viermal begegnet.
    Â»Würden Sie einmal für mich nachsehen?«, fragte Gabriel.
    Â»Hören Sie, ich hab hier Wichtigeres zu tun, als im hintersten Winkel des Kellers irgendwelche Kartons nach verstaubten Akten zu durchwühlen. Und am Ende krieg ich noch ’nen Rüffel vom Chef.«
    Â»Ich könnte vorbeikommen und selbst suchen, wenn Sie mir zeigen, wo.«
    Â»Das wäre ja wohl noch schöner«, entgegnete sie. »Dr. Wagner wäre sicher begeistert, wenn er erfährt, dass ich einem früheren Patienten mal eben den Schlüssel fürs alte Archiv gebe.«
    Â»Das alte Archiv?«, fragte Gabriel. Das befand sich im historischen Teil des Kellers, hinter dem Lieferanteneingang im Souterrain.
    Plötzlich wurde es ganz still am anderen Ende der Leitung. Schließlich stöhnte die Frau entnervt auf. »Hören Sie, wenn Sie sich das wirklich antun wollen, ich meine, im kaputten Teil Ihres Lebens herumzuwühlen, dann besorgen Sie sich einen guten Anwalt. Den werden Sie brauchen, wenn Sie Ihre Unterlagen sehen wollen, Herr … wie war noch mal Ihr Name?«
    Wortlos legte Gabriel auf. Er wusste, was er wissen musste.
    Vom Mittelhaus der Conradshöhe dringt plötzlich ein markerschütterndes Geschrei herüber. Gabriel zuckt zusammen. Das Licht hinter einem der Fenster im dritten Stock springt an, die Gitterstäbe heben sich dunkel vor dem hellen Rechteck ab. Männerstimmen, Gepolter, das Schreien zerfließt zu einem erbarmungswürdigen lauten Wimmern. Für den Bruchteil einer Sekunde will er davonrennen, Hals über Kopf. Krachend wird das auf Kipp stehende Fenster zugeschlagen. Das Jammern erstirbt, als hätte jemand dem Patienten die Stimmbänder durchtrennt. Nur der Wind füllt die Stille und rauscht durch die Kronen der fast dreißig Meter hohen Bäume.
    Weißt du, was sie mit dir machen, wenn sie dich erwischen, Luke?
    Lass mich in Ruhe, ich will’s gar nicht wissen.
    Kannst du dich auch daran nicht mehr erinnern?
    Lass – mich – in – Ruhe!
    Waschtag, Luke. Denk an die Waschtage.
    Das helle Rechteck verschwindet wieder, verschmilzt mit der dunklen Wand, als sei dort nie ein Fenster gewesen, geschweige denn ein Zimmer, in dem jemand lebt.
    Waschtag. Die Prozedur war die immer gleiche, und Dr. Armin Dressler hatte sie mit Hingabe perfektioniert. Hinlegen, festschnallen, dann die Elektroden auf die Schläfen kleben. Der Strom raubte ihm jedes Mal die Besinnung. Waschtag war Gehirnwaschtag, meistens freitags, vor den Wochenenden, an denen immer zu wenig Personal da war, um die Problempatienten unter Kontrolle zu halten. Nach dem Waschtag liefen die Patienten alle herum wie frisch gestrichene Wände – und gaben Ruhe.
    Wasch gang dagegen war Einzeltherapie. Gerade in seiner Anfangszeit in der Geschlossenen, immer wenn Gabriel austickte, phantasierte oder sich irgendwie sonst irre benahm, wurde gewaschen. Später gab’s fürs Austicken dann die Betonspritze. Waschen reichte nicht mehr. Oder brachte nichts.

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