Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
ununterbrochenes Murren herein. Die Deutschen haben dreimal so viele Geschütze pro Frontmeter wie bei dem großen Durchbruch in der Nähe von Gorlice; und das ist zu spüren.
Die Hitze ist erdrückend. Arnaud liegt auf seiner Strohmatratze und rechnet nach. Zwei Drittel. Welche seiner Männer werden dort drüben zurückbleiben? Welche der fünfzehn Offiziere des Bataillons werden die nächste Woche überstehen, ohne verwundet oder getötet zu werden? Statistisch gesehen drei oder vier. Wird er dabei sein?
Am Nachmittag erhalten sie ihre Befehle:
Heute Nacht soll das 6. Bataillon das Bataillon des 301. Regiments ablösen, das auf Höhe 321 steht. Das Bataillon soll die Zitadelle um 19.15 Uhr verlassen und um 21.00 Uhr an dem Punkt sein, wo die Straße nach Bras auf die Pied-du-Gravier-Schlucht trifft. Zwischen den einzelnen Gruppen ist ein Abstand von fünfzig Metern zu halten.
Arnaud redet mit seinen Leuten, die gerade ihr Gepäck mit Konserven, Zwieback, Werkzeug und Munition auffüllen. Die Stimmung ist angespannt. Er versucht sie zu beruhigen, nicht mit einer patriotischen Rede – er weiß, dass so etwas in solchen Situationen nie funktioniert –, sondern mit Pragmatik: «Wir waren immer eine vom Glück gesegnete Kompanie. Wir werden auch von Verdun zurückkommen.»
In der Abenddämmerung defilieren sie Gruppe um Gruppe aus dem dunklen und geborgenen Inneren der Zitadelle hinaus durch die leeren und schweigenden Ruinen der Stadt. Dann und wann landet eine schwere Granate in der Nähe der Kathedrale. Die lange Kette schwer bepackter Männer passiert den Fluss auf einer Pontonbrücke. Unter ihren Füßen hallen die Planken. Arnaud betrachtet das schwarze Wasser und denkt: «Wie viele von uns wohl über diese Brücke zurückkehren werden?»
Während einer Rast kommt ein Mann «mit schlaffem, aufgedunsenem Gesicht und verschlagenem Blick» zu Arnaud und hält ihm flehend ein paar Papiere hin. Der Mann unternimmt anscheinend einen allerletzten Versuch, davonzukommen, er gibt an, Schneider zu sein und noch nie in der vordersten Linie gewesen zu sein, weil er an einem Leistenbruch leide. Die Papiere bescheinigen es. Arnaud, der schon darüber verbittert ist, dass einer der Berufsoffiziere des Bataillons vor dem Einsatz bei Verdun plötzlich eine Versetzung zum Tross erhalten hat, schnauzt ihn nur an.
Dennoch hat Arnaud Mitleid mit dem Mann, als er ihn mit hängendem Kopf und den Papieren in der Hand davongehen sieht. Und er denkt, dass er das Gleiche vielleicht auch versucht hätte, wenn er nicht sein Rangabzeichen auf dem Ärmel trüge. Als sie kurz darauf an einer Abteilung vorbeikommen, die vom Gefecht zurückkehrt, mit schlammbedeckten Uniformen und fiebrigen Augen, kann er nicht umhin, den jungen Leutnant zu beneiden, der sie anführt: «So sehr wünschte ich, er zu sein.»
Sie beginnen, sich an den steilen Hängen, die zum Schlachtfeld führen, nach oben zu arbeiten. Das Dröhnen der Artillerie schwillt an, alle Geräusche vermischen sich. Rechts von ihnen glüht der Himmel. Dort fallen Granaten auf das Fort Douaumont, das die Deutschen am vierten Tag erobert haben, und das jetzt ein Zentrum der Kämpfe geworden ist – mehr als das: ein Markstein, ein Magnet, ein Mythos, der einen Symbolwert weit über seine militärische und taktische Bedeutung hinaus erlangt hat, ein Fetisch deutscher und französischer Propagandisten, ein Maß für Fortschritt in einer Zeit, in der Fortschritte immer abstrakter geworden sind – und Rückschläge immer konkreter. Seit dem Beginn der Gefechte Ende Februar sind rund zwanzig Millionen Granaten auf dem Schlachtfeld eingeschlagen.
Das Dunkel verdichtet sich, und sie gehen weiter durch die Nacht, eine leere Straße entlang. Plötzlich: Ein Blitz über ihnen, gefolgt von einem scharfen, kurzen Knall. Alle ducken sich, instinktiv. Die erste feindliche Granate. Sie spüren den Gestank von faulendem Fleisch. Arnaud hat Angst und wird immer ungeduldiger. Schließlich begegnen sie ihrem Führer:
Wir zogen in schnellem Tempo weiter, über eine Schlucht, einige steile Abhänge hinauf, bogen nach rechts ab, schwenkten nach links. Auf beiden Seiten explodierten Granaten. Wir sprangen in einen Verbindungsgraben, kletterten wieder heraus, huschten wieder hinein und kletterten wieder heraus. Ich folgte der letzten Gruppe und marschierte wie im Traum.
Unmittelbar vor einer Anhöhe, die unter deutschem Artilleriebeschuss liegt, machen sie halt. Die Führer sind
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