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Schubumkehr

Schubumkehr

Titel: Schubumkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Rauchen für einen Raucher, wenn er es nicht tat, eine Beschäftigung war, eine Aktivität, die ihn in den folgenden Tagen vollends ausfüllte. Wenn er schon auf diesem Bio-Bauernhof vorläufig festsaß, sagte er sich, dann könnte er sich bei dieser Gelegenheit wenigstens von diesem Laster befreien. Ob er aus Unschlüssigkeit, was er tun sollte, nur dasaß und eine nach der anderen rauchte oder ob er aus dem selben Grund ab jetzt keine mehr rauchte, – es war doch egal. Und es war ihm bereits alles so egal geworden, daß es ihm fast als Erlösung erschien, nun dazu gezwungen zu sein, Willensstärke zu beweisen und Konsequenz zu zeigen – so wie seine Mutter beim Abnehmen. Seine plötzliche Willensstärke war das Echo der Stimme seiner Mutter. Du vernebelst dir nur das Hirn, sagte sie, ja, ich verneble mir nur das Hirn, dachte er. Es wird dir viel besser gehen, sagte sie, es wird mir besser gehen, dachte er. Und in der Tat war es mit diesem lethargischen Herumsitzen schlagartig zu Ende. Plötzlich war er andauernd in Bewegung, um sich vom Wunsch nach einer Zigarette abzulenken. Seine Spaziergänge wurden ausgedehnter, er borgte sich auch immer wieder Richards Wagen, um kaugummikauend die Gegend abzufahren und zu erkunden, er verbrachte einen halben Tag in den Sportartikelgeschäften von Peugen und Schruns, um einen Jogging-Anzug und Laufschuhe zu kaufen, einen anderen halben Tag, um goutierend zwischen den Regalen des Schrunser Reformhauses zu stehen, wo er homöopathische Globoli erwarb, die die Bewältigung des Nikotinentzugs unterstützen sollten, Propolis-Dragees, Blutreinigungstees, Entschlackungskapseln, Essenzen für Entspannungs- und Beruhigungsbäder. Immer wieder besuchte er auch diesen Mann im Steinbruch, Herrn Ölzant, der Vertrauen zu ihm faßte, Geschichten erzählte und schließlich auch bereit war, die Geschichte der Untergänger vor laufender Kamera zu wiederholen, an drei aufeinanderfolgenden Tagen, immer nach seiner Mittagspause, bevor er weiterarbeitete.
    Der Untergang, manchmal hat man auch Umgang gesagt, aber normal hat es Untergang geheißen, das war jedenfalls dasselbe, also der Untergang wurde regelmäßig durchgeführt, um den Verlauf der Grenzen ständig zu überprüfen. Es gab den allgemeinen Untergang, da sagte man auch Ordinari, und den besonderen Untergang. Die Untergänger haben sozusagen die Grenze in ihren Füßen gehabt, vom regelmäßigen Abschreiten, die kannten jeden Stein, jedes Zeichen. Beim Ordinari-Untergang war fast die ganze Gemeinde dabei, in Abstimmung mit der Nachbargemeinde, da sind die Untergänger also praktisch mit den Leuten aus zwei Dörfern gegangen, ganz wichtig waren da die Kinder, da wurde großer Wert darauf gelegt, daß die Kinder daran teilnehmen. Damit sie, wenn die Alten sterben, auch ganz genau wissen, wie der Grenzverlauf ist. Das war immer nach der Erntezeit. Da sind die Gemeindegrenzen abgegangen worden, und die einzelnen Felder und so weiter, und es ist geschaut worden, welche Grenzsteine aufgerichtet oder neu gesetzt werden müssen. Der besondere Untergang wurde notwendig, wenn es Grenzstreitigkeiten gab, da waren dann mit den Untergängern nur die streitenden Parteien mit, es wurden die Grenzsteine überprüft und es mußte an Ort und Stelle ein Urteil gefällt werden. Das war die schwierigste Aufgabe für die Untergänger, das war eben sehr heikel, weil sie manchmal entscheiden mußten gegen sehr mächtige und einflußreiche Persönlichkeiten, aber wie gesagt, die Untergänger waren Respektpersonen, sehr angesehen, und sie kannten alle Tricks, also das wurde dann anerkannt. Na ja, manchmal gab es schon Beschwerden, wie sagt man, Berufung, da gab es dann höhere Schlichtstellen, und das Höchstgericht für Grenzstreitigkeiten war in Wien, dort war der sogenannte Oberuntergang.
    Roman war euphorisch, weil er das Gefühl hatte, endlich wieder einmal etwas zu tun, diesen Film zu drehen, für den er im Gemeinde- und im Pfarramt dann sogar recherchierte, wo er tatsächlich alte Untergang-Protokolle fand, und wenn er diese Arbeit auch absichtslos machte, so nahm sie ihn doch glücklich in Anspruch. Ölzant bot ihm sogar an, einmal mit ihm die Grenze des Peugener Forsts abzugehen und ihm den langen Satz, an dem er gerade arbeitete, zu zeigen, soweit er schon fertiggestellt war.
    Wenn Roman auf dem Hochsitz stand, sah er jetzt mit anderen Augen, sein Blick wanderte über die Grenzen seines Gesichtskreises, Grenzen, an denen sich benachbarte Dörfer einst

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