Schwarz auf Rot
nur darum, ihn allein zu lösen, während Oberi n spektor Chen in Urlaub war. Es waren Ermittlungen, an denen sich die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit, ja seiner g e samten Karriere erweisen mußte. Obwohl er in der Pol i zeihierarchie ziemlich weit unten stand, war er stets ü berzeugt gewesen, mit seiner Arbeit einen sinnvollen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Und dieser Fall war ihm schon deshalb ein Anliegen, weil er auch für Peiqin, die Yangs Dichtung schätzte, wichtig war.
Die politische Seite des Falls kümmerte ihn dagegen wenig. Sie illustrierte nur einmal mehr die Tatsache, daß alles in China von Politik beeinflußt wurde, aber das war ihm seit langem bewußt. Für ihn ging es darum, in di e sem shikumen-Haus endlich einen Durchbruch zu erzi e len. Statt weiter die Bewohner zu befragen, würde er se i ne Vorgehensweise mit dem Alten Liang durchsprechen.
Sie hatten sich darauf konzentriert, daß jemand aus dem Gebäude der Mörder sein mußte. Die Möglichkeit, daß ein Fremder die Tat begangen haben könnte, hatten sie aufgrund der Tatsache verworfen, daß kein Unb e kannter beim Betreten oder Verlassen des Hauses, weder durch den Vorder-noch durch den Hintereingang, be o bachtet worden war. Aber mußte m an nicht auch mit Falschaussagen rechnen? Konnte nicht einer – oder gar mehrere der Zeugen – jemanden decken?
Damit entstand ein neues Problem. Seine Zeugen stammten aus drei unterschiedlichen Familien. Selbst wenn die Beziehungen unter den Nachbarn, mit Au s nahme von denen zu Yin, tatsächlich so harmonisch w a ren, wie Alter Liang es darstellte, so war es dennoch u n wahrscheinlich, daß drei Familien in ein gemeinsames Mordkomplott verwickelt waren. Einen Fremden, der das Gebäude durch den Vordereingang verlassen hatte, kon n te man praktisch ausschließen. Was die Hintertür betraf, so hatte die Krabbenfrau eine klare Aussage gemacht: Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Aber hatte sie auch die Wahrheit gesagt?
Während Hauptwachtmeister Yu diese Überlegungen anstellte, hielt Alter Liang an seiner Bewohner-Theorie fest.
»Sie müssen weiterhin die Nachbarn befragen«, b e harrte er. »Wenn Sie möchten, kann ich dabei anwesend sein, aber mir scheint es sinnvoller, wenn ich noch mehr Hintergrundinformationen sammle.«
»Ihre Arbeit ist ausgesprochen hilfreich, aber wir mü s sen die Ermittlungen beschleunigen. In dem Gebäude wohnen über fünfzehn Familien, und Parteisekretär Li drängt auf konkrete Ergebnisse.«
»Die Zeit wird also knapp.«
»Ja, wir müssen unsere Gesprächspartner sorgfältig auswählen. Schauen wir doch mal, wer als nächster auf der Liste steht.«
Lei Xueguang war der fünfte in der Reihe der Ve r dächtigen.
»Ach dieser Lei! Sie werden es nicht glauben, aber ihm hat Yin auf ihre Weise sogar geholfen«, hub Alter Liang in dramatischem Ton an, den Yu von seinem Vater kannte. »Aber Sie kennen ja das Sprichwort: Keine gute Tat bleibt ungestraft.«
In den frühen Siebzigern war Lei, damals noch ein Gymnasiast, erwischt worden, als er von einem Lastw a gen der Kreisv erwaltung stahl, und man hatte ihn zu zehn Jahren Haft verurteilt. Zu seinem Unglück lief damals gerade die Kampagne »Hart gegen das Verbrechen vo r gehen«. Alle in jenem Jahr Verhafteten erhielten wesen t lich hä r tere Strafen als sonst. Als Lei wieder auf freien Fuß kam, war er arbeitslos. In staatlich geführten Betri e ben hatte er keine Chance. Privates Unternehmertum wurde zu jener Zeit zwar erstmals zugelassen, aber nur in sehr begren z tem Umfang als »marginale Ergänzung zur sozialist i schen Planwirtschaft«. Hätte Lei einen Raum im Erdg e schoß mit Eingang zur Gasse bewohnt, so hätte er ihn als kleinen Laden oder Imbißstube nutzen können. Einige Leute in der Gegend hatten einen Großteil ihres Woh n raums in solche Kleinstunternehmen verwandelt. Aber Lei hatte dazu weder die räumlichen Voraussetzu n gen noch die nötigen Beziehungen. Seine Versuche, eine Gewerbelizenz zu bekommen, waren fehlgeschlagen.
Zum Erstaunen der Anwohner hatte Yin Leis Fall in einem Artikel für die Wenhui-Zeitung angeprangert, und zwar als Beispiel für das unkooperative Verhalten von Nachbarschaftskomitees. »Ein junger Mann muß doch die Möglichkeit bekommen, für sich zu sorgen, ander n falls wird er nur wieder straffällig«, schrieb sie. Offenbar hatte das lokale Komitee diesen Artikel zur Kenntnis g e nommen; jedenfalls erhielt Lei kurz darauf die Lizenz, am Eingang der Gasse
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