Schwere Wetter
Tsakalidis zu, der unsicher an der steilen Leiter stand, sich
krampfhaft an die Holme klammerte und vorsichtig die glitschigen Stufen
hinabtastete. Er folgte dem Fährmann, der über den Anleger zu dem kleinen
Wartehäuschen ging, daneben eine Sperrkette aushakte, sich unter einem Geländer
durchzwängte und über die feuchte Wiese zur Fähre stapfte, die hier mit ihrer
vollen Länge von vierzehn Metern über Land schwebte. Mit der Taschenlampe
leuchtete der Mann die Fähre, die Träger und die Halterungen für die acht
leuchtend roten Rettungsinseln ab, die auf der Unterseite des Schwebepontons
angebracht waren.
»Da ist nichts«,
sagte der Fährmann. Deutlich war der Ärger aus seiner Stimme zu hören.
»Doch«, behauptete
Tsakalidis. »Hinten.«
Der Mann von der
Fähre ging an seinem Gefährt entlang und lenkte den Strahl der Taschenlampe auf
die hintere Halterung der Rettungsinseln. Der Lichtkegel fing ein Tau ein, das
dort verknotet war. Langsam ließ er den Strahl an dem Nylonseil entlangwandern,
das über den Uferrand verschwand. Vorsichtig näherten sich die beiden Männer
dem glatten Rand. Viel war nicht zu erkennen, und näher durfte man nicht
herantreten, um nicht Gefahr zu laufen, abzurutschen und in das kalte und brackige
Wasser zu stürzen.
Der Fährmann
kratzte sich den Kopf. »Und nun?«, fragte er.
»Wir können am
Seil ziehen«, schlug Tsakalidis vor.
Beherzt packten
die beiden Männer an. Das raue Nylon riss ihnen im Nu die Handflächen auf. Es
war schwerer als erwartet. Tsakalidis atmete schwer und wollte schon aufgeben,
als über dem Uferrand der Kopf eines Menschen auftauchte. Vor Schreck ließ er
das Seil los.
»Verdammte
Scheiße!«, schrie der Fährmann, der die Last nicht allein halten konnte und dem
das ins Wasser zurückgleitende Seil die Handflächen noch tiefer aufriss und
verletzte.
»Das … war …
ein … Mensch …«, stammelte Tsakalidis. »Wir müssen die Polizei anrufen.«
Er wusste nicht,
dass die Sonne erst um acht Uhr und sieben Minuten aufgehen würde. Theoretisch.
Doch bei dem trüben Wetter am heutigen Tag war das nur ein statistischer Wert.
Tsakalidis sah auf die Uhr. Eigentlich sollte er schon bald mit seinem Setra
auf der Linie 3250 von Rendsburg Richtung Todenbüttel unterwegs sein.
Mit zittriger Hand
wählte er die Eins-Eins-Null und wurde mit der Leitstelle Kiel verbunden.
Umständlich berichtete er von dem Fund. Der Beamte fragte nach seinem Namen,
dem genauen Fundort und sicherte zu, dass die Einsatzkräfte in Kürze eintreffen
würden.
Wenig später
tauchten die ersten Blaulichter auf. Der Streifenwagen kam vom Rendsburger
Polizeirevier aus der Moltkestraße. Von der Osterrönfelder Polizei am anderen
Ufer konnte er keinen Beamten entdecken. Vermutlich war die Station zu dieser
frühen Stunde noch nicht besetzt.
Tsakalidis hatte
den Leiter des Betriebshofs angerufen und ihn darüber informiert, dass er heute
später kommen würde. Zunächst musste er seine Personalien angeben und von
seiner Entdeckung berichten. Das Ganze durfte er ein weiteres Mal erzählen, als
ihn ein freundlich auftretender Zivilist befragte. Sie hatten sich vor dem
Regen in einen Steifenwagen zurückgezogen. Den Namen hatte Tsakalidis nicht
verstanden, nur dass es sich um einen Oberkommissar handelte. Woher hätte er
wissen sollen, dass inzwischen die Beamten der Kriminalpolizeistelle Rendsburg
mit dem »ersten Angriff« begonnen hatten, während sie auf das K1 aus Kiel
warteten?
***
Auch den Bewohnern
des älteren Einfamilienhauses im Kieler Stadtteil Hassee war der erste
Herbststurm des Jahres nicht verborgen geblieben.
»Hoffentlich hat
es nicht wieder durchgeregnet«, sagte Margit und sprang zur Seite, als das Glas
mit Kakao umkippte, der Inhalt sich über den Tisch ergoss und ihr trotz der
artistischen Übung zum Großteil in den Schuh lief.
»Mensch, Sinje,
pass doch auf!«, schimpfte sie.
»Jonas hat mich
angestoßen«, erwiderte die Fünfjährige und holte zu einem Schlag aus, als ihr
Bruder das bestritt.
»Doofe Ziege. Ich
hab dich gar nicht berührt.«
»Doch.«
»Nein.«
»Doch.«
»Schluss jetzt!«,
rief Margit dazwischen. »Jonas. Hast du deine Sachen für die Schule zusammen?«
»Ich weiß nicht,
wo meine Turnsachen sind.«
»Wo hast du die
gestern gelassen?«
»Weiß nicht.«
»Der weiß nie, wo
seine Sachen sind«, mischte sich Sinje ein.
»Ohne Weiber wie
dich wäre die Welt viel gemütlicher«, stellte Jonas fest.
»Und wer würde dir
die Sachen
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