Schwesternkuss - Roman
sicher. Aber sie glaubte Gradys blonde Haare zu erkennen. In der linken Hand hielt der Mann eine Papiertasche.
Wer benutzt heutzutage noch Münztelefone? Doch nur Leute, deren Handy-Batterien leer waren, oder die etwas zu verbergen hatten. Und wenn beides auf sie zutraf, erst recht.
Der Mann legte auf und machte sich auf den Weg zu Bennies Haus. Es war Grady. Wenn sein Besuch hier spontan war, dann wussten seine Freunde und seine Familie vermutlich nichts von seinem Aufenthaltsort. Und wenn er seinen Kollegen gebeten hatte, für ihn aus familiären Gründen einzuspringen, dann wusste niemand in seiner Kanzlei, dass er bei seiner alten Flamme war. Die Chancen standen also gut, dass niemand wusste, wo Grady war.
Perfekt.
Sie zog einen Bausch Kleenex-Tücher aus der Schachtel auf dem Nachttisch und legte sich aufs Bett. Das Gesicht vergrub sie unter dem Kopfkissen. Kurz danach hörte sie, wie die Haustür aufging.
»Komm bitte hoch!«, rief sie. Alice hatte einen Plan gefasst. Falls Grady seinen Telefonanruf unerwähnt ließ, musste sie handeln.
Auch unfähige Liebhaber kann der Tod ereilen.
43
Mary legte die Karte der Maklerin zurück. Anthony hatte nicht angerufen. Aber da sie keine war, die Wert auf Förmlichkeiten legte und Machtspielchen hasste – außer sie wusste vorher, wie sie ausgingen –, griff sie zum Handy.
Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal, dann sprang die Mailbox an. Der Klang seiner Stimme hatte etwas angenehm Vertrautes, löste in ihr aber kein erotisches Kribbeln aus. Ob sie ihm eine Nachricht hinterlassen sollte? Nein. Aber warum ging er nicht ans Telefon? Wollte er sie loswerden?
Vielleicht war er ja im Badezimmer und duschte. Sie stand auf, machte Dehnübungen mit den Beinen und ging ins Bad. Ein paar Minuten später war sie wieder zurück und rief ihn erneut an. Wieder keine Antwort. Allmählich begann es in ihr zu kochen.
Was vergibst du dir, wenn du ans Telefon gehst?
Ihre Laune wurde von Minute zu Minute schlechter. Wer war er denn, dass er sich erlauben konnte, ihre Anrufe zu ignorieren? Waren seine Liebeserklärungen nur heiße Luft gewesen? Wenn man sich wirklich liebte, sprach man miteinander. Selbst wenn man stinksauer aufeinander war.
Sie checkte ihre E-Mails. Unendlich viele Mandanten hatten ihr geschrieben. Sie öffnete jede einzelne Mail, um die Zeit totzuschlagen. Sie versuchte sie zu lesen, aber ihre Gedanken waren woanders. Anthony war ein verzogenes Bürschchen. Dafür hatte seine Mutter gesorgt. Wie so oft.
Nachdem gefühlsmäßig fünfzehn Minuten vergangen waren, rief sie ihn wieder an. Nichts. Die Mailbox drückte sie weg. Eine letzte Chance würde sie ihm noch geben. Aber wieso sollte sie eigentlich wieder diejenige sein, die nach einem Streit den ersten Schritt machte?
Sie versuchte sich mit den E-Mails zu beschäftigen, aber sie war nun zu sehr in Rage. Sie wählte abermals Anthonys Nummer. Nichts. Frustriert rief sie die Maklerin auf ihrem Handy an, die sofort abhob.
»Janine Robinson.«
»Hi. Hier spricht Mary DiNunzio. Ich habe heute mit meinem Freund das Haus besichtigt.«
»Ich erinnere mich. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe die ganze Zeit über das Haus nachgedacht und hätte noch ein paar Fragen.«
»Wenn ich Sie hier gleich unterbrechen darf. Es gibt nämlich schon zwei Gebote auf das Haus.«
»Nein.«
»Doch.«
»Dann kann ich das Haus also vergessen.«
»Keines der beiden Gebote entspricht dem geforderten Preis. Das verrate ich Ihnen, ganz unter uns. Wenn Sie also ebenfalls ein Angebot abgeben wollen, komme ich sofort zu Ihnen. Sie leben doch in der Stadt?«
»Ja. Wie lange habe ich zum Überlegen?«
»Ich bin gerade mit meinem Wagen auf dem Weg zum Besitzer. Wenn Sie Interesse haben, fahre ich vorher bei Ihnen vorbei.«
»Jetzt?«
»Ja, jetzt sofort. In der nächsten halben Stunde. Ich hatte Sie gewarnt. Häuser wie dieses gibt es nicht alle Tage. Und ich kann Ihnen verraten, dass die Preise bald steigen werden, weil die Konjunktur sich erholt. Sie suchen doch ernsthaft ein Haus?«
»Klar.« Ich möchte ein Baby, ein Haus und einen Mann. Aber nicht zwingend in dieser Reihenfolge.
»Dann würde ich jetzt zuschlagen.«
Mary schluckte schwer.
44
»Hilfe! Hilfe!« Bennie lief zu dem weißen Pick-up, der am Straßenrand anhielt. Die Wagentür ging auf, und hinter dem schwachen Lichtschein einer Taschenlampe, der sie an ein Glühwürmchen erinnerte, erkannte sie schemenhaft die Gestalt eines Mannes.
»Ist da
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