Science Fiction Almanach 1981
sitzen und uns festhalten, dann schneiden wir das Seil mit unseren Messern durch und los geht’s.“
Willie blieb in der Nähe der Tür, da er Angst davor hatte, zu weit auf die Plattform hinauszugehen.
Wenn er geradeaus schaute, sah er nur die Spitzen von e i nem oder zwei anderen Türmen. Er spürte, wie der Turm unter seinen Füßen im Wind leicht schwankte, und er wurde beinahe von einem Schwindelgefühl überwältigt.
„Komm hierher und hilf mir mit dem Drachen.“
Willie biß die Zähne zusammen und schaffte den zusa m mengeklappten Drachen von Juan nach draußen. Er hielt ihn dabei vorsichtig, damit der Wind ihn nicht zu schnell füllen konnte. Juan band ihn an, breitete ihn auf der Plattform aus und spannte ihn. Zum Schluß band er noch die beiden Ve r strebungen zusammen, die den Rahmen verriegelten und aus ihm einen riesigen Deltaflügel machten.
„Wir müssen von dort drüben starten, wo die Brüstung verfallen ist. Das ist leichter, als ihn über das Geländer zu balancieren.“
Willie warf nur einen Blick in die Richtung, in die Juan zeigte, und seine Eingeweide knoteten sich vor Angst z u sammen. Eine große Lücke in der Mauer ließ ihnen keinen Schutz. Wenn sie fielen …
„Juan, ich kann nicht …“
„Willie, ich fliege jetzt. Wenn du nicht mitkommst, dann bleib eben allein hier.“
Juan schob seine Arme durch die Gurte und hielt sich fest, damit der Wind ihn nicht zu früh wegtragen konnte. Willie tat das gleiche. Seine Knie zitterten, und er mußte stark schlucken, um das dürftige Frühstück unten zu beha l ten. Dann ging er Juan nach. Er schob die Füße über den Boden, um den Kontakt nicht zu verlieren, bis er die Plat t formkante erreicht hatte. Willie hatte vor, nicht herunterz u sehen, weil er wußte, daß das für ihn katastrophal wäre; eine entsetzliche Faszination aber zwang seine Augen auf das Panorama, das unter ihm ausgebreitet lag. Da lag die Stadt, ihre Türme schon Ruinen, die Straßen schon voller Ame i sen, von denen er wußte, daß es Leute waren. Höhenangst überwältigte ihn, und er fiel auf die Knie und kauerte unter dem Dach seines Drachenseglers, der sich in der Morgenbr i se füllte und an ihm zerrte. Sie drohte ihn über die Kante in jene entsetzliche Leere zu wehen.
Von oben hörte er Juans Stimme. „Los, Mann, ich bin hier oben soweit. Ich schneide jetzt das Seil durch.“
Willie zwang sich, die Augen aufzumachen, und sah nach oben, nicht nach unten. Dort droben baumelte Juan mit tr i umphierendem Gesicht von seinem gigantischen Drachen herab. In der Hand hielt er das Messer bereit, mit dem er die Halteschnur durchschneiden würde, um sich für seine u n mögliche Reise zu befreien.
„Nein, geh nicht, Mann. Du stirbst!“
Vor Angst geschüttelt glitt Willie aus den Haltegurten seines Drachens und griff nach dem Seil, das Juan mit dem Turm verband. Er zog den Drachen mit kraftvollen Händen zu sich heran.
„Loslassen!“ Juans Stimme war eiskalt vor Zorn; aber di e ses eine Mal ignorierte Willie das Mißfallen seines Freundes.
„Das lasse ich nicht zu, daß du das riskierst, Juan. Ich kann nicht fliegen – und du kannst mich nicht allein hierla s sen. Wir sind Seelenbrüder.“
Er hob einen muskulösen Arm und packte Juan am Fuß. Er zog an seinem Freund, um ihn zurückzuholen. Er ign o rierte den Abgrund zu seinen Füßen und bemühte sich nur, Juan bei sich zu behalten.
Dann blitzte es kurz in der Morgensonne, und durch Wi l lies Hand zuckte ein plötzlicher Schmerz.
„Du hast mich geschnitten!“ In seinem Schrei klang u n gläubiger Schmerz.
„Niemand hält mich hier fest.“ Juans Gesicht war verzerrt und bösartig. „Ich fliege jetzt, Willie. Ich bleibe nicht hier für dich – für niemanden. Um die Nummer eins muß ich mich kümmern.“
Wieder blitzte das Messer, und die Brise nahm den Dr a chen auf und fegte ihn weg nach Westen.
Die Halteschnur schnellte zurück und erwischte Willie im Gesicht. Sie hätte ihn fast geblendet. Er fiel auf die Plat t form zurück. Ein Arm baumelte in den Abgrund. Als seine Angst nachgelassen hatte, sah Willie zum Himmel. In weiter Ferne flog ein schwarzer Punkt – wo Juan in die Vorstadt floh.
Willie weinte und ließ die Tränen ungehindert über seine Wangen laufen. Er rutschte langsam von der zusammeng e fallenen Brüstung weg zu der relativen Sicherheit der off e nen Plattform. Das Ausmaß seiner Einsamkeit erdrückte ihn, und er konnte gar nicht schnell genug zur Treppe zurück. Er mußte
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