Sean King 04 - Bis zum letzten Atemzug
hinunterschritt, von ihrem Stab und den Sicherheitsleuten begleitet, war sie in Gedanken nicht bei der Gesundheitsreform, aber auch nicht bei dem Brief. Sie hatte ihren Bruder gnadenlos unter Druck gesetzt, sodass er ihr endlich verraten hatte, was Sean ihn am Telefon gefragt hatte.
War Willa das adoptierte Kind?
Jane geriet bei dem Gedanken leicht ins Stolpern. Sofort packte ein Agent des Secret Service ihren Arm.
»Alles in Ordnung, Ma'am?«
»Ja. Danke.«
Jane ging weiter, jetzt wieder ganz im First-Lady-Modus.
Doch ein schrecklicher Gedanke drang durch ihre ansonsten so eisenharte Rüstung, als wäre sie aus Papier.
Holt uns die Vergangenheit jetzt doch noch ein?
40.
Q uarry fuhr. Gabriel saß in der Mitte, Daryl daneben. Der Truck schaukelte hin und her, bis sie den festen Asphalt erreichten. Sie hatten fast den ganzen Tag auf den Feldern verbracht und waren hundemüde. Doch dieser Besuch war Pflicht. Gleich nach dem Abendessen hatten sie sich auf den Weg gemacht.
Gabriel schaute aus dem Fenster und sagte: »Ich glaube, Sie hatten recht, was den alten Kurt betrifft, Mr. Sam. Er ist weitergezogen. Keine Spur von ihm zu finden.«
Daryl warf einen Blick zu seinem Vater, schwieg jedoch.
Quarry sagte ebenfalls nichts, sondern hielt die Hand auf dem Lenkrad und schaute stur nach vorne, eine glimmende Zigarette im Mund. Schließlich bogen sie auf den Parkplatz des Heims ein. Als sie ausstiegen, schnappte sich Quarry einen Kassettenrekorder vom Armaturenbrett und trat seine Zigarette auf dem Bürgersteig aus. Dann gingen sie gemeinsam hinein.
Auf dem Weg durch den Flur bemerkte Quarry: »Es ist schon lange her, seit du deine Schwester zum letzten Mal besucht hast, Daryl.«
Daryl verzog das Gesicht. »Ich mag es nicht, sie so zu sehen. Ich will mich nicht so an sie erinnern, Daddy.«
»Sie hat es ja nicht absichtlich gemacht.«
»Ich weiß.«
»Von außen mag sie anders aussehen, aber drinnen ist sie noch immer deine Schwester.«
Quarry öffnete die Tür des Krankenzimmers.
Die Pflegerinnen hatten Tippi auf die rechte Seite gedreht; also zog Quarry ein paar Stühle dorthin. Dann holte er das Buch von Jane Austen aus der Tasche und gab es Daryl.
»Ich bin nicht so gut im Vorlesen«, erklärte Daryl. »Besonders nicht bei so alten Sachen, Daddy.«
»Versuch's einfach«, erwiderte Quarry. »Ich bin ja kein Literaturkritiker.«
Daryl seufzte, nahm das Buch, setzte sich und begann zu lesen. Sein Vortrag war stockend und langsam, aber er tat sein Bestes. Als er vier Seiten gelesen hatte, dankte Quarry ihm und gab das Buch an Gabriel weiter.
Der kleine Junge war eindeutig der bessere Leser. Er las ein ganzes Kapitel und verlieh dabei jedem Charakter eine eigene Stimme. Als er fertig war, sagte Quarry: »Das klang nicht so, als wäre es dir diesmal zu langweilig geworden, junger Mann.«
Gabriel schaute ihn mit unschuldigen Augen an. »Ich lese das Buch gerade in Atlee. Ich dachte, wenn Sie und Miss Tippi es so sehr mögen, sollte ich es mir vielleicht doch noch mal ansehen.«
»Und wie lautet dein Urteil?«, fragte Quarry, und ein Lächeln legt sich auf sein Gesicht.
»Es ist besser, als ich dachte. Mein Lieblingsbuch ist es trotzdem nicht.«
»Das reicht mir schon.«
Quarry stellte den Kassettenrekorder auf den Nachttisch neben dem Bett und schaltete ihn ein. Dann nahm er Tippis Hand und hielt sie fest, während die Stimme von Cameron Quarry, Sams toter Frau und Tippis Mutter, das Zimmer erfüllte. Sie wandte sich direkt an ihre Tochter und sprach von Liebe und Hoffnung und all den anderen Dingen, die sie tief in ihrem Inneren empfand.
Zum Ende hin wurde ihre Stimme immer schwächer, denn die Aufnahme war am Sterbebett gemacht worden. Auf ihre ausdrückliche Bitte hin hatte Quarry sie aufgezeichnet.
Die letzten Worte lauteten: »Ich liebe dich, Tippi, Kleines. Mama liebt dich von ganzem Herzen. Ich kann es gar nicht erwarten, dich wieder in meinen Armen zu halten, mein kleines Mädchen ... wenn wir beide gesund und munter bei Jesus sind.«
Quarry sprach diese letzten Worte stumm mit. Dann schaltete er den Kassettenrekorder aus. Kaum war der Name Jesus gefallen, hatte Cameron Quarry ihren letzten Atemzug getan. Für eine gottesfürchtige Frau wie Cameron, dachte Quarry, war das ein angemessener Weg, ins nächste Leben überzuwechseln. Anschließend hatte er ihr die Augen geschlossen und ihr die Hände auf der Brust gefaltet ... nicht viel anders, wie er es bei seiner Mutter gemacht hatte.
Daryl
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