Second Face
orangefarbenes neues T-Shirt von Anne, legt ein wenig Make-up auf, kämmt sich die Haare und fertig.
Sie holt Svantevit aus dem Stall und reitet los. Die Sonne steht schon tief über dem Meer, als sie am Strand ankommt. Lirim ist noch nicht zu sehen.
Dann geht die Sonne hinter Hiddensee unter, der Himmel färbt sich rot, eine traumhaft schöne Stimmung. Wenn, ja wenn Lirim jetzt hier wäre.
Noch gibt Marie die Hoffnung nicht auf. Vielleicht muss er noch etwas für die nervigen Schüler machen, oder einer der Schüler hat einen Unfall und er muss warten, bis der Arzt kommt. Immer neue Ideen hat sie, warum Lirim sich verspäten könnte.
Es wird langsam dunkel, die ersten Sterne werden am Himmel sichtbar.
Marie zieht die Beine an und legt die Arme darum. Immer wieder schaut sie aufs Meer, ob sein Kopf im Wasser erscheint, dann wieder auf den Weg. Hat er Freitag gesagt oder Samstag? Nein, es war der Freitag. Freitag, gleicher Ort, gleiche Zeit. Sie geht ein Stück den Strand entlang. Vielleicht sitzt er nur wenige Meter um die nächste Ecke herum.
Kein Lirim zu sehen. Er kommt auch nicht, als die Sterne schon lange am Himmel stehen. Der Große Wagen. »Der zweite Stern in der Deichsel, das ist unser Stern. Jeden Abend werde ich hinaufschauen. Und wenn ich Glück habe, siehst du zur gleichen Zeit hinauf.« Das waren seine Worte am letzten Sonntag. Fünf Tage ist es erst her und doch liegt eine ganze Ewigkeit gefüllt mit sehnsüchtigen Träumen dazwischen.
Ob er jetzt im Jugenddorf steht, nicht wegkann und auch zu den Sternen schaut? Anne schickt ein letztes Mal ihre ganze Sehnsucht hinauf. Dann steht sie auf und reitet traurig mit Svantevit zurück nach Hause.
9
Am Samstagmorgen ist Marie schon früh im Stall, um die Pferde zu versorgen. Der kleine Puk begrüßt sie, indem er seine Schnauze in ihren Bauch stößt. Marie hat auch seine Pflege mit übernommen, schließlich hat sie ihn ja auf die Welt gebracht.
Sie ist mal wieder fast fertig mit der Arbeit und fängt gerade mit dem Striegeln von Filou an, als Anne noch im Schlafanzug erscheint. Sie gähnt und streckt sich. »Du hast was verpasst gestern Abend. Ich bin ins Halbfinale gekommen.«
»Seit wann spielst du Fußball?«
»Fußball doch nicht! Es gibt einen Contest: Wer wird die Dancing Queen von Ummanz? Darum geht’s! Total abgefahren!«
»Dancing Queen von Ummanz? Aber sonst geht es dir gut?« Marie schaut die Schwester ungläubig an. »Warum nicht gleich Heringstonnenkönigin?«
Ein wenig verlegen sagt Anne: »Der Titel ist bescheuert, aber es macht irre viel Spaß, die Leute sind cool drauf!«
»Und weiter?«
»Wie ›weiter‹?«
»Na, dein Typ.«
»Ach der! Den hat es voll erwischt. Der ist so was von verliebt in mich.«
»Und du? Hast du … habt ihr …?«
»Rumgeknutscht?« Anne schüttelt sich. »Nee, davon hab ich erst mal die Nase voll. Ich hab ihn nur heißgemacht und dann bin ich mit Maik tanzen gegangen.«
Marie betrachtet die Schwester halb bewundernd, halb sorgenvoll.Wie kann man nur so abgebrüht sein? Aber sie weiß auch, dass hinter der ach so coolen Fassade die Anne steckt, die durch Kais Verhalten immer noch unheimlich verletzt ist.
»Heute ist das Halbfinale und morgen das Finale. Du musst mir helfen, die Klamotten für heute Abend auszusuchen. Mit einem sexy Outfit hat man den Sieg schon fast in der Tasche. Schließlich besteht die Hälfte der Jury aus Jungs.« Anne auf dem Weg zur Dancing Queen von Ummanz – wer hätte das vor vier Wochen gedacht!
Während der Samstag sonst wie im Fluge vergeht, tröpfeln die Stunden diesmal in Zeitlupe dahin. Anne ist aufgeregt wegen des Contests, Marie wegen Lirim. Heute muss er kommen, da ist sie sicher.
Um sich zu beschäftigen, mistet Anne sogar freiwillig den Stall aus, was eigentlich nicht zu den Aufgaben der Zwillinge gehört. Marie hilft ihr.
»Willst du nicht wenigstens heute Abend mitkommen?«, fragt Anne.
Marie zögert. Die Eltern erwarten sowieso, dass sie Anne begleitet, und bis zum Sonnenuntergang ist noch Zeit.
»Aber ich bleibe nicht den ganzen Abend.«
»Nicht nötig, es geht schon um sieben los.«
Gemeinsam suchen sie die passende Bekleidung für das Motto des Abends aus: Bauchtanzen.
»Aber du kannst doch gar nicht bauchtanzen.«
Anne lacht. »Die anderen doch auch nicht. Das ist doch gerade das Lustige.« Sie dreht und windet sich im Schlafzimmer. »Ich hab das mal im Fernsehen gesehen.«
»Warte mal!« Marie geht an ihren Laptop und googelt nach einem
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