Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenangst

Seelenangst

Titel: Seelenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Etzold
Vom Netzwerk:
hätten wir schon mal …«
    Sein Handy klingelte.
    »Winterfeld … ah, Frau Bories. Ja, siebzehn Uhr. Ja, geht auch. Wir sind sofort da.«
    Er stand auf. »Bellmann will uns sprechen. Jetzt sofort. Also, keine Zeit mehr zur Vorbereitung. Hermann«, er reckte das Kinn in Hermanns Richtung. »Du machst unten weiter. Und ruf Weber an, wenn du Fragen hast, der müsste noch im Taxi sitzen. Es reicht, wenn wir da oben hocken und wiederholen, was wir eh schon wissen. Ihr zwei …« Er schaute Clara und MacDeath an. »Ihr kommt mit. Ich mache die Storyline, und ihr gebt mir Feuerschutz, wenn er mit Detailfragen kommt, klar?«
    Beide nickten.
    Er ließ das Fenster krachend zuschlagen, während draußen grauschwarze Wolken über den Himmel zogen wie riesige träge Raubfische in einem dunklen, endlosen Meer.

31
    Hendrik mochte Tattoos.
    Er schlenderte den Bahnsteig entlang und betrachtete sich in den Fenstern der vorbeifahrenden Züge. Fast alles an ihm war tätowiert. Er gehörte zur Gothic-Szene; da waren Tattoos immer schon üblich gewesen. Doch mittlerweile trug fast jeder Spießer ein Tattoo – irgendwelche chinesischen Schriftzeichen zumeist, bei denen die Leute oft gar nicht wussten, was sie bedeuteten. Selbst die Beine manch biederer Bankangestellten waren mit Tribal-Symbolen tätowiert – da, wo man sie nicht sah –, aber es gab ihnen das Gefühl dazuzugehören.
    Sie gehörten aber nicht dazu. Denn wer Tattoos ernst nahm, der zeigte sie. So wie Hendrik. Selbst sein Gesicht war tätowiert. Flammen loderten seine Wangen hinauf, bis sie sich oben auf seinem kahlen Schädel in Rauchwolken verloren. Sogar Nase und Schläfen waren tätowiert. Einzig auf seiner Stirn war noch ein Fleck frei und wartete auf seine Bestimmung. Irgendwann würde Hendrik diesen weißen Fleck füllen. Womit, wusste er noch nicht. Das Schicksal würde es ihm sagen, da war er sicher.
    Zu Hause hielt er eine Schlange in einem Terrarium, die er einmal die Woche mit lebenden Mäusen fütterte. »Satan« hieß das gute Tier, so wie der Teufel, der Adam und Eva im Paradies verführt hatte. Und Schlangen, Zombies und Totenköpfe trug auch er mit sich herum. Untote, Teufel und Skelette auf rot entzündetem Fleisch. Die Hölle, das waren nicht die anderen. Die Hölle, das war er selbst.
    Tattoos. Sie waren einerseits ein Panzer, der sein Inneres abschirmte, so wie ein Fenster aus Spiegelglas, das nur reflektierte, was vor ihm stand, aber keinen Blick auf das Innere dahinter zuließ. Zugleich waren Tattoos ein Buch, in dem man lesen konnte. Hendriks Haut war wie bemaltes Pergament, wie einer dieser Folianten aus dem Mittelalter, bei denen Schrift und Illustration eine so geniale Einheit eingegangen waren. »Monstermaler« hatte man die Illustratoren damals genannt, und tatsächlich sah Hendrik sich als eine Art Buch, in dem Ungeheuer abgebildet waren.
    Das Böse und sein Abbild , dachte er. Schon in der Steinzeit bannten die Menschen ihre Ängste und Feinde auf Höhlenwände, um sie greifbarer und damit besiegbarer zu machen. Irgendwann verschwanden die Höhlenmalereien. Doch als der Glaube an die Erlösung schwand, kamen sie wieder. Nicht mehr auf Höhlenwänden, sondern auf der Haut.
    Es hatte damit begonnen, dass Hendrik sich zweimal eine Dreizehn hatte stechen lassen, an jedem Ohr eine. »Die Dreizehn ist meine Glückszahl«, sagte er gerne. Doch Glück hatte sie ihm nicht gebracht. Den Job bei dem Einzelhändler, zu dem ihn sein Arbeitsvermittler geschickt hatte, hatte er wegen dieser beiden Dreizehnen nicht bekommen.
    In der Zeit danach waren es mehr Tattoos geworden, immer mehr.
    Doch in letzter Zeit war da noch etwas anderes. Etwas, das Hendrik beunruhigte. Es war dieses schwarze Raubtier, das nicht in einem Tattoo gebannt werden konnte, da es gar nicht existierte, das aber seinen Geist in Gefangenschaft hielt. Das schwarze Raubtier, das ihn manchmal anfiel und Besitz von ihm ergriff, ihn in einen tiefen schwarzen Brunnenschacht warf, aus dem er nie wieder herauskam. Die einzige Erlösung war der Tod.
    Waren es Depressionen? Oder eine Störung des Gehirns? Von Churchill wusste man, dass er an einem Bahnsteig immer möglichst weit weg von der Bahnsteigkante ging, um nicht in Versuchung zu geraten, vor den Zug zu springen und alles hinter sich zu lassen. Meine zwei schwarzen Hunde, hatte er die Depression genannt.
    Mitunter erging es Hendrik genauso.
    Spring, sagte manchmal eine Stimme zu ihm, wenn er auf einem hohen Gebäude stand. Mittlerweile

Weitere Kostenlose Bücher