Seelenbrand (German Edition)
herab. Severin war nirgendwo zu sehen, und die Ziegen waren auch weg. So ein Mist! Er ist nicht da! Er wollte gerade zum Stall herüberhatzen und dort das Ende des Gewitters abwarten, als sich die Tür einen Spalt weit öffnete.
»Ja?« sagte eine zittrige Stimme aus der Dunkelheit, ohne daß sich die Person zeigte.
Der Regen war gerade bis in Pierres Schuhe gelaufen. Genau vor der Eingangstür befand sich nämlich eine Mulde, in der sich die Wasserströme vom Dach sammelten, und er stand mittendrin. Die Person, die ganz im Gegensatz zu ihm warm und trocken in der Hütte hockte, machte unterdessen überhaupt keine Anstalten ihn hereinzulassen.
»Ich bin’s! Der neue Pfarrer!«
Keine Reaktion.
»Ihre Viecher haben mir die Blumen am Pfarrhaus weggefressen! Wissen Sie noch?«
»Oh, ja! O Gott! O Gott! Herr Pfarrer, kommen Sie schnell herein, es regnet ja fürchterlich!«
Tja! Diese Erkenntnis kommt zu spät. Ich bin naß bis auf die Knochen!
Die Tür öffnete sich ruckartig und augenblicklich schlug ihm eine Wolke von Tiergeruch entgegen. Severin war offensichtlich nicht allein. Aufgeregt meckernd liefen die Ziegen im Inneren der mit einer Laterne erhellten Hütte umher.
»He! Geht mal weg da ... und laßt unseren Herrn Pfarrer rein!«
Es war zwar erstaunlich viel Platz in dieser Herberge, aber die meckernden Gäste hatten sich derartig an der Tür aufgebaut, daß er sich erst zwischen ihren Körpern hindurchzwängen mußte. »Danke!« sagte er freundlich, als er das letzte verstockte Tier mit der Hand wegdrängte. »Es geht schon!«
Bevor Severin die Tür hastig schloß, steckte er seinen Kopf hinaus und blickte schnell nach rechts und links, ob noch jemand draußen war. »Bernardette mag kein Gewitter«, sagte er leise und entschuldigend, während er den schweren Balken von innen quer vor die Tür legte. »Und die übrigen wollen nicht ohne Bernardette im Stall bleiben.«
Wie das Klopfen von tausend Fingern prasselte der Regen auf das Dach, und die Blitze zuckten wie ein wildes Höllenfeuer. Pierre sah sich um, und die Vierbeiner begannen ihn schon zu bedrängen.
»Weg da! Laßt gefälligst unseren Herrn Pfarrer in Ruhe!«
Hier drin war es erstaunlich gemütlich und geräumig.
»Husch in die Ecke!« Wie eine Vogelscheuche rannte er mit seinen wilden, fliegenden Haaren und seiner braunen Lumpenkutte hinter den meckernden Tieren her. Zwei von ihnen hatten es sich bereits auf seinem Bett gemütlich gemacht, das nur aus einem wackeligen Gestell und aus einigen strohgefüllten Säcken bestand, die die Matratze bildeten.
Darüber lagen einige Felle.
»Setzen Sie sich doch«, schnaufte er, während er ein Tier an seinen Hörnern wegzog.
Pierre griff sich ohne weitere Umschweife den nächsten Stuhlund ließ sich am Tisch, auf dem einige Holzschüsseln standen, nieder. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht beim Essen?«
»Nein, nein!« Severin wischte sich die Hände an den Stoffetzen ab, die die Löcher seines Lumpens zusammenhielten und machte eine abfällige Bewegung in Richtung der Tiere. »Ihr gehorcht ja sowieso nicht!«
Draußen rumste es ununterbrochen. Das Wasser schoß in Strömen über das Dach. Pierre sah nach oben. Aber es war dicht.
»Äh ...«, er hatte bei dem Gepolter gar nicht gemerkt, daß Severin ihn angesprochen hatte, »... was kann ich für Sie tun, Herr Pfarrer?« Der Bruder stand erwartungsvoll vor ihm und hatte große Mühe, seine zappeligen Füße für einen Augenblick an einer Stelle zu halten.
In seinen Augen las Pierre sofort, wie es in seinem Innersten brandete. Todesangst! Wie das Reh im Angesicht des Jägers. » Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Er kam sofort zur Sache, um seinen armen Gastgeber nicht noch länger leiden zu lassen und kramte in seiner Tasche nach dem Pflanzenstückchen.
Severin hüpfte unterdessen von einem Fuß auf den anderen und wischte sich immer wieder seine Hände an der braunen Lumpenkutte ab.
Der Umstand, daß Pierre mit seiner Hand in der Tasche nach dem Pflänzchen grub, ermutigte zwei der lästigen Ziegen, die sich die ganze Zeit unbemerkt hinter seinem Stuhl aufgehalten hatten, ihre Schnauzen ebenfalls in seine Tasche zu zwängen und nach einem Leckerchen zu suchen. Er konnte gerade noch verhindern, daß ihm die eine seinen einzigen Hinweis auf das Phantom zwischen den Fingern wegfraß.
»Hey, weg da! Husch!« Severin machte einen hektischen Satz nach vorn und zog die Köpfe der bockigen Tiere an ihren Gehörnen aus der Tasche. Pierre tat so,
Weitere Kostenlose Bücher