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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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Gluckern und Schlabbern, als er sich an der Tränke bediente. Schließlich wandte er sich um und wäre um ein Haar zur Seite gekippt. Es gelang ihm gerade noch mit einem Ausfallschritt, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. Neben mir sog Jules die Luft ein, sagte jedoch nichts.
    Dann entdeckte mich Hyde. Der Typ ist wieder da!
    Welcher? , wollte der Doktor wissen und wandte sich mir sehr langsam und vorsichtig zu. Oh, der.
    »Ja, der«, sagte ich grinsend. »Geht’s euch gut, Jungs?«
    Mit gesträubtem Fell richtete Hyde sich auf die Hinterbeine auf und drohte mir schrill fiepend. Seine Drohgebärde verlor allerdings an Wirkung, als er zur Seite kippte, gegen den Doktor prallte und ihn unter sich begrub.
    Hyde, du Trottel! Der Feind! Wir müssen den Feind … Jekyll schien den Faden verloren zu haben. Er wuchtete Hyde zurSeite, kämpfte sich umständlich auf die Pfoten und trottete zur Tränke zurück.
    Hyde begann eine Melodie zu summen – irgendwas von Fall Out Boy, was er vermutlich bei Jules aufgeschnappt hatte. Allerdings klang seine Version mehr nach … Kneipe.
    »Frag sie endlich«, drängte Jules nun neben mir.
    »Nicht nötig.« Ich hatte bereits eine Ahnung, was mit den beiden los war.
    »Was fehlt ihnen?«
    Ich griff nach der Tränke, montierte sie vor Dr. Jekylls durstigen Augen ab und zog sie heraus. Schon aus der Ferne stieg mir ein für Wasser ungewöhnlich scharfer Geruch in die Nase. »Die beiden sind sturzbesoffen.« Ich hielt Jules die Tränke hin, um sie daran riechen zu lassen.
    »Mein Gott, da ist Wodka im Wasser!«
    »Ich vermute mal, deine Mom versorgt die beiden, wenn du nicht da bist?«
    Sie öffnete den Mund, schnappte fassungslos nach Luft, öffnete ihn wieder und schloss ihn erneut.
    »Keine Sorge, die kommen wieder in Ordnung.« Ich drückte ihr die Tränke in die Hand. »Schütt das Zeug weg, füll frisches Wasser rein und bring eine kleine Schüssel mit kaltem Wasser mit, in die wir die zwei tauchen können.«
    Jekyll und Hyde waren so stramm, dass ich sie – als unsterbliches Wesen, auf dessen Organismus der Alkohol keine Wirkung hatte – beinahe schon um ihren Rausch beneidete.
    Als Jules zurückkehrte, befestigten wir die Tränke mit dem frischen Wasser am Käfig, fischten erst Jekyll, dann Hyde heraus und verpassten ihnen ein kaltes Bad, das sie schlagartig nüchtern werden ließ. Die fantasievollen Flüche, mit denen sie mich bedachten – Jules war für sie eine Heilige,selbst wenn sie ihnen den Kopf unter Wasser tauchte –, waren es wert, sich jedes einzelne Wort zur späteren Verwendung zu merken.
    Nach zehn Minuten war der Spuk vorbei und die beiden lagen leise schnarchend in ihrem Schlafhäuschen.
    Jules stellte die Wasserschüssel zur Seite. »Danke.«
    »Du solltest dein Zimmer abschließen, wenn du nicht zu Hause bist«, riet ich. »Die beiden werden nicht verhungern, wenn du ihnen am Morgen etwas in den Käfig legst.« Und deine Mom muss sich künftig andere Saufkumpane suchen , fügte ich in Gedanken hinzu.
    Es wäre für mich an der Zeit gewesen, zu verschwinden, stattdessen ertappte ich mich dabei, dass ich mitten im Zimmer stand und Jules beobachtete, wie sie vor dem Käfig stand und auf das Häuschen starrte, in dem die Ratten schnarchten. Angesichts dessen, was sie in den letzten Stunden erlebt und erfahren hatte, wirkte sie erstaunlich ruhig. Ja, es hatte Momente gegeben, in denen ich nicht sicher gewesen war, ob sie vielleicht jeden Augenblick die Fassung verlieren würde, doch sie hatte sich jedes Mal gefangen, bevor das passieren konnte. Dabei hatte ich schon Menschen wegen wesentlich weniger durchdrehen sehen.
    Mein Blick schweifte durch das spartanische Zimmer mit seinen verlebten Möbeln. Ich hatte den Rest der Wohnung gesehen – und ihre Mutter. Außerdem war ich Zeuge geworden, wie sie versucht hatte, sich mit Sonderschichten mehr Arbeit aufzubürden, weil sie das Geld dringend brauchte. Meine Güte, sie hatte sogar versucht ihre Seele deswegen zu verkaufen. So wie es aussah, war Jules in ihrem Leben mit genügend Problemen konfrontiert, sodass sie die Nachricht, kein Mensch zu sein, nicht so schnell aus der Bahn werfen konnte. Vermutlich konnte man sich am Rande der Armutsgrenze mit einer trinkenden Mutter keine Schwäche leisten.Und wenn ich ehrlich war, nötigte mir ihre Stärke Respekt ab.
    »Wenn ich diesen Job annehme und für euch Schutzengel arbeite«, unterbrach sie meine Gedanken, »was wird dann aus meiner Schule? Kann ich wirklich nicht

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