Selige Witwen
begegnet. Erst nach der Entdeckung des Diebstahls konnte er meine Person überhaupt mit dem Fehlen der Bilder in Zusammenhang bringen. Ob ihm damals sofort aufgefallen war, daß es an der Wand vier leere Stellen gab? Konnte es nicht vielleicht der Zufall wollen, daß er bloß eine liegengelassene Akte im Flur geholt hatte und erst am Abend sein Eigentum vermißte? Diese Möglichkeit erschien mir jedoch unwahrscheinlich, und deshalb mußte ich schleunigst zahlen und verschwinden. Als ich der Kellnerin winkte, traf mich Eriks Blick.
Auf dem Weg zur U-Bahn drehte ich mich immer wieder mißtrauisch um. Dann fuhr ich kreuz und quer durch die Gegend, bevor ich nach diversen Umwegen wohlbehalten zu Hause ankam. Aber der Schreck saß mir tief in den Knochen.
In jener Nacht plagten mich ungewohnte Gewissensbisse.
Andys Moralpredigt, über die Cora bloß lauthals gelacht hätte, hatte mich tiefer getroffen als gedacht. Unter der Unzuverlässigkeit meiner Freundinnen hatte ich stets gelitten; leider war gerade dieser Charakterzug meine eigene größte Schwäche. Meinen kleinen Sohn ließ ich im ungewissen, wann ich ihn wieder holen würde. Von Menschen, die es gut mit mir meinten - wie Andy, Jonas oder Felix -, hatte ich Geld erbettelt, ohne zu bedenken, ob ich je zur Rückzahlung in der Lage wäre.
Dabei hatten diese drei Männer, jeder auf seine Art, ihre Ersparnisse durch Arbeit verdient, während ich, die oberflächliche Müßiggängerin, fremde Notgroschen leichten Herzens ausgab. Ich begann, über den Großmut der anderen und die eigene Schlechtigkeit zu weinen, und beschloß, mich zu bessern. Dabei hörte ich meine verstorbene Mutter ganz deutlich predigen: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Hatte ich die depressive Veranlagung meiner Mutter geerbt?
Und den Mangel an Verantwortungsbewußtsein von meinem Vater, der sich durch exzessives Saufen von der Familie und schließlich von der ganzen Welt abgekoppelt hatte? Und konnte ich bei solchen Eltern nicht gleich das Handtuch werfen?
In jener schlaflosen Nacht meinte ich merkwürdige Geräusche zu hören: schleichende Schritte im Treppenhaus, noch in später Stunde das Zuschlagen einer Autotür. Abgesehen von meinen Schuldgefühlen plagte mich nackte Angst. Ich malte mir aus, daß mich die Thailänderin im Straßencafe erkannt und Erik über meine Statistenrolle bei der Sprachberatung informiert hatte.
Daraufhin würde er sich erinnern, wann er mir schon einmal begegnet war: genau an jenem Tag, als seine Bilder
verschwanden.
Wenn der geklaute Matisse tatsächlich so wertvoll und bereits registriert war, dann würde Erik nicht die Polizei, sondern Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um wieder in seinen Besitz zu kommen. Kathrin blieb zwar die Hauptverdächtige, ich gehörte jedoch zu ihrem Umfeld; hoffentlich hatte er unsere Adresse im Westend noch nicht ausspioniert.
Doch selbst wenn dem so wäre - ich wollte nicht klein beigeben. Kathrin hatte sich zwar für einige Tage abgesetzt, aber war das ein Grund, die Bilder in Gefahr zu bringen?
Die Gemälde mußten an einen Ort gebracht werden, den Erik nie im Leben finden konnte. Bahnhofsaufbewahrung?
In jedem zweiten Fernsehkrimi wurden die Schließfachschlüssel als erstes aus den Handtaschen gefischt.
Natürlich spielte ich mit dem Gedanken, die Bilder nach Italien zu schmuggeln, doch ich wollte Cora nicht bitten müssen. Aber wen hatte ich schon außer Cora und Kathrin?
In meiner Heidelberger Schulzeit war ich jahrelang Einzelgängerin geblieben, bis Cora als Neue in unsere Klasse kam, und dann war ich nur noch mit ihr unterwegs.
Als zuverlässiger Freund blieb mir zwar noch Jonas, den ich aber keinesfalls in zwielichtige Machenschaften verstricken wollte; schließlich hatte er meinen Sohn im Augenblick bei sich aufgenommen. Die WG-Adresse hatte Erik bereits in Erfahrung gebracht, so daß eine dortige Deponierung ebenfalls ausschied. Eigene Familienangehörige hatte ich nicht mehr, aber vielleicht konnten Coras Eltern als Ersatz herhalten: Sie hatten mich stets so herzlich wie eine eigene Tochter aufgenommen, mich wiederholt eingeladen und mein Kind geradezu als Enkel betrachtet. Im Laufe der Zeit waren sie etwas enttäuscht, daß ich mich - auf Coras Geheiß - fast nie gemeldet hatte. Deswegen war es mir ein wenig peinlich, sie jetzt um Hilfe zu bitten, aber ich rief am nächsten Morgen trotzdem bei ihnen an und tat, als ob ich nach wie vor in Italien lebte.
Sofort kamen die erwarteten
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