Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
Die Nächte waren bereits empfindlich kalt, und als die Familie zum Abendessen zusammenkam, blieb Lukes Platz leer.
„Wo ist Lukas?“ erkundigte sich Kristers Mutter.
Es gehörte zu Anders Bergmarks Eigenschaften, die Fragen seiner Frau geflissentlich zu ignorieren, auch wenn sie wie in diesem Fall eindeutig an ihn gerichtet waren. Es bedurfte eines gewissen Nachbohrens, bevor aus ihm etwas herauszubekommen war.
„Was weiß ich, Ulla-Britt!“ knurrte er endlich genervt, einen frischen Brotlaib mit den Händen brechend.
„Hast du ihn nicht heute Vormittag zum Pilze sammeln losgeschickt?“ meldete sich Britt-Marie, Kristers jüngere Schwester, etwa in Lukes Alter.
„
Du
redest, wenn du gefragt wirst!“ Die autoritäre Stimme des Vaters und sein drohend auf sie gerichteter Zeigefinger ließen das Mädchen augenblicklich verstummen.
Krister, damals bereits ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig Jahren, wagte es nicht, seinen Vater zur Rede zu stellen, zu angespannt hatte sich ihr Verhältnis in der letzten Zeit entwickelt. Jedes Gespräch schien unausweichlich in einem Streit zu enden. Vater und Sohn gingen sich daher aus dem Weg so gut es ging. Krister spielte mit dem Gedanken, in Bälde eine eigene Hütte zu bauen, ein Vorhaben, das der Vater zwar äußerlich begrüßte, im Innern aber nicht zu verwinden schien.
„Heute Vormittag?“ Die Mutter suchte vergeblich den Blick ihres Sohnes. „Dann ist er ja schon viele Stunden draußen. Bei dem Wetter.“ Es hatte am späten Nachmittag zu regnen begonnen, der teilweise in Graupel übergegangen war.
Krister nickte und zuckte dann hilflos mit den Achseln.
„Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?“
Anders Bergmark ließ den Löffel in die geleerte Suppenschale fallen. „Pah, der Junge ist alt genug. Was soll ihm denn zustoßen? Und wenn – wen interessiert es wirklich? Ein unnützer Esser weniger!“
Die Tatsache, dass sich Luke sein Essen schwer verdiente, fiel nicht sonderlich ins Gewicht. Die Familie aß weiter, als sei nichts geschehen. Nach der Mahlzeit jedoch zögerte Ulla-Britt Bergmark nicht länger. Sie nahm ihren Ältesten zur Seite.
„Ich gehe jede Wette ein, dein Vater hat ihm befohlen, es nicht zu wagen, mit leeren Händen heimzukommen. Jetzt noch Pilze zu finden, grenzt fast an ein Wunder. Ich habe Angst um Lukas. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt wie der armen Augusta Johansson.“
Der tragische Verlust der vierzehnjährigen Augusta im letzten Herbst reihte sich nahtlos in die Liste der inzwischen dreiundzwanzig Menschen ein, die in den vergangenen Jahrzehnten auf mysteriöse Weise spurlos aus Aotearoa verschwunden waren. Meistens handelte es sich um Kinder oder Halbwüchsige, die aus unerfindlichen Gründen nicht mehr nach Hause zurückkehrten. Nicht einer der Verschwundenen war je wieder aufgetaucht oder irgendwo gesehen worden. Sie waren fort, als hätte die Erde sie verschluckt. Groß angelegte Suchaktionen blieben erfolglos. Nun existieren in Aotearoa keine wilden Landtiere, die einem Menschen hätten gefährlich werden können und denen man die Schuld zuweisen konnte.
Mit jedem Verschwinden steigerte sich die Fassungslosigkeit in der Bevölkerung, legte sich aber letzten Endes wieder. Irgendwann gewöhnte sich Aotearoa daran, ein bis zweimal pro Jahr den Verlust eines jungen Menschen beklagen zu müssen.
Beunruhigend blieb die unheimliche Regelmäßigkeit, mit der das Unfassbare zuschlug. Selbst bewaffnete und wehrhafte junge Männer wie der im Spätsommer 620 bei Cape Travis verschwundene, siebzehnjährige Annachie Brennain, tauchten nie wieder auf. Lediglich seine Jagdwaffe, einen Skinner, fand man auf dem feuchten Waldboden einer Lichtung am Nordhang des Monteskuro. Keine Spuren eines Kampfes oder einer Auseinandersetzung, kein Blut, nichts. Der Vater des Verschwundenen beharrte darauf, dass sein Sohn sich niemals freiwillig von seinem Messer getrennt hätte. Es musste ihm also körperliche Gewalt angetan worden sein. So sehr der Vater auch suchte, er fand seinen Sohn nicht wieder.
Auffällig blieb, es handelte sich stetes um junge Menschen. Keiner der Verlorengegangenen war älter als zwanzig Jahre alt gewesen. Zudem schien sich das beängstigende Phänomen von Süd nach Nord vorzuarbeiten.
Kurze Zeit nach der Wiederbesiedlung von Willer im Jahre 578 ereigneten sich die ersten Fälle. Gab es wilde Tiere im Staten Forest oder im Zentralmassiv, von denen man nichts oder nichts mehr wusste? Blutrünstige Bestien, die
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