Shadow Touch
die Frau hervor und schüttelte den Kopf. »Sie sind vielleicht ein Penner.«
»Ich weiß«, sagte Artur demütig. »Aber was soll ich tun?«
Sie tippte wütend mit ihren langen Fingernägeln auf den Tresen, eine Rauchwolke waberte um ihre rote Haarmähne. »Also gut. Ich gebe Ihnen genug Benzin, um Wladiwostok erreichen zu können. Da müssen Sie selbst weiterkommen, und dann ...« Sie beugte sich vor und spitzte ihre roten Lippen. »... kommen Sie zurück und bezahlen.«
»Oh«, erwiderte Artur. »Selbstverständlich.«
Die Frau lehnte sich zurück, ihre Miene verfinsterte sich noch mehr. »Ich hoffe, dass Sie besser im Bett sind als mit Ihrem Mundwerk. Und jetzt verschwinden Sie! Tanken Sie!« Sie sah Elena an. »Tut mir leid«, sagte sie in gebrochenem Englisch, »Sie sehen uns Land so schlimm. Ich wünsche Gutes Sie.«
Elena unterdrückte ein Schluchzen und lächelte die Frau schwach an.
»Herzerweichend«, erklärte die Frau und winkte Artur und Elena vom Fenster weg. Artur pumpte Benzin in den Tank, während die anderen wieder einstiegen. Anschließend winkte er der Frau noch einmal zu.
Dann fuhren sie schleunigst weiter.
»Danke«, sagte Artur. »Ihr wart alle sehr überzeugend.« Vor allem Elena, aber er wusste nicht, wie er ihr das sagen sollte. War es höflich, einem guten Menschen zu sagen, dass er das Zeug zu einem meisterhaften Trickbetrüger hatte? Oder war vielleicht nicht einmal alles Verstellung gewesen?
»Sie waren auch sehr überzeugend«, erwiderte Amiri. »So überzeugend, dass ich stark vermute, dass Sie beträchtliche Übung darin haben.«
Darauf wusste Artur nichts zu antworten. Er sah Elena an, die ihn mit einem traurigen, aber wissenden Lächeln beobachtete.
»Vielleicht ein wenig«, gab er widerwillig zu. Ihr Blick, der so mitfühlend und hinreißend war, zwang ihn einfach, es zu gestehen.
Außerdem war es gar nicht schlecht, Elena die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil, es gefiel ihm.
10
Elenas erster Eindruck von Wladiwostok bezauberte sie. Die Stadt war wunderschön, wie sie sich über einige Berggipfel, Halbinseln und Inseln erstreckte, während das Meer heiter hinter dem Strand funkelte.
»Sieht es auch aus der Nähe so gut aus?«, erkundigte sie sich, während Artur eine Serpentinenstraße hinabfuhr.
»Aus der Ferne sieht alles gut aus«, erwiderte er, »aber doch, einige Viertel der Stadt sind wirklich sehr schön. Eigentlich merkwürdig, wenn man bedenkt, dass sie immer nur wie ein glorifizierter Marinestützpunkt betrachtet wurde.« Er deutete auf die Bucht. »Siehst du all die Werften? Die russische Pazifikflotte ist hier stationiert. Strategisch sehr bedeutsam. Fremde werden überhaupt erst seit zehn Jahren in die Stadt hineingelassen.«
Elena lächelte. »Du hast eine heimliche Vorliebe für Boote und U-Boote, hab ich recht?«
Artur sah sie überrascht an und lächelte. Er wirkte fast wie ein Junge. »Ich mag Schiffe, ja. Als Kind wollte ich Pirat werden. Mit einem Papagei auf der Schulter. Und einem Säbel und einer Pistole.«
»Und was war mit dem Holzbein?«
»Nein, o nein.« Lachend schüttelte er den Kopf. »Nein, ich wollte in der Takelage herumturnen. Und laufen. Ich wollte die Freiheit. Das offene Meer, nur ich und die Sonne und der Wind.« Er zögerte. »Hast du schon einmal Fotos von alten sowjetischen Mietskasernen gesehen? Groß und grau? Es sind monströse Bauwerke, und dazu in sehr schlechter Qualität. Meine matushka, meine Mutter, hat ihr Bestes versucht, es uns behaglich zu machen, aber an einem solchen Ort war das äußerst schwierig. Man wird so stark kontrolliert, vor allem in Moskau. Geld, die Nachbarn, die Politik.«
»Und Piraten interessieren sich nicht für so etwas, stimmt’s?«
»Außer vielleicht für Geld.« Artur lächelte immer noch. »Ein bisschen Gold kann nie schaden.«
Elena grinste und warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob die anderen zuhörten. Rik schien fest zu schlafen. Er lag zusammengerollt auf dem Boden der Ladefläche. Amiri lag neben ihm. Er schlief zwar nicht, reagierte jedoch auch nicht auf Elenas Blick. Was sie ihm nicht krummnahm. Sie hielt es für sehr wahrscheinlich, dass die beiden Männer weder ihr noch Artur vertrauten, und wenn sie ehrlich war, musste sie einräumen, dass sie den beiden ganz ähnliche Gefühle entgegenbrachte. Sie waren willkürlich zusammengewürfelt worden und mussten jetzt miteinander auskommen. Wer konnte schon sagen, ob sie wirklich ihr wahres Ich zeigten?
Rictor
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