Shane - Das erste Jahr (German Edition)
mich diese Lust gepackt hat, warum ich mich in dieser merkwürdigen Stimmung befinde. Ich war heute in den Katakomben.
Bei Gott, sie sind riesig! Sie ziehen sich unter der Stadt hindurch wie ein Spinnennetz, und wer weiß, welche Geheimnisse sie eingewoben haben mögen.
Ich habe nur einen kleinen Teil gesehen, und ich bin bereits gefesselt von ihnen, ich bin von ihnen besessen. In die Wände sind Halterungen aus Eisen geschlagen, in denen Fackeln stecken. Jeder Gang, jede Kurve birgt ein neues Geheimnis, jede Tür gibt eines frei. Ich weiß, dass ich ihnen ausgeliefert bin. Ich will sie erkunden, ich will alles über sie wissen, ich will ihre Schätze freilegen und sie schützen. In den Katakomben herrscht kein Krieg.
Da unten, wo es nur Stille und flackernde Wärme gibt, gehen Jäger und Augen aneinander vorüber, als wären es Nachbarn.
Keine befreundete Nachbarn, sie würden wohl jeder dem anderen gerne Dreck in seinen Garten schaufeln, doch der eine würde dem anderen keine Pfeilspitze durchs Auge schießen.
Für mich ist es ungewohnt. Ich kann mich an keinem Ort bewegen, ohne Angst zu haben, ohne darauf vorbereitet zu sein, meinen Körper als Waffe zu benutzen. Ich werde mich daran gewöhnen, und bei Gott, es gibt schlimmeres, oder?“
Shane atmete tief ein. Was war das für ein Geruch? Fast war es ihr, als hätte sie monatelang geschlafen, als hätte sie die Bettdecke über sich und eine Welt gezogen, die sie nicht sehen wollte. Sie sah sich um. Die Welt war dieselbe. Warum, Shane, fühlt es sich dann so anders an? Ihre Augen flogen über die Straßen, über die Häuser, über die immer noch vom Schnee bedeckten Sträucher und Bäume. Irgendetwas war anders heute Morgen. Shane atmete noch einmal tief ein. Sie hatte geträumt. Es war nicht der Traum, den sie früher immer hatte, jede Nacht.
Es war ein anderer Traum gewesen, und obwohl er viel realistischer war, schienen ihr die Bilder weniger echt als die von der dunklen engen Gasse.
Es waren Bilder, an die sie sich kaum noch erinnern konnte.
Sie wusste, dass es sie einmal gegeben hatte, sie wusste, dass sie alles schon einmal gesehen hatte, doch sie schmerzten so sehr in ihrem Inneren, in ihrem Herzen, dass sie fast geweint hatte, als sie heute früh aufgewacht war.
Sie hatte die Mutter gesehen, die die Wäsche im Garten hinter dem Haus aufgehängt hatte. Die Laken und Handtücher hatten im Wind geflattert, und Shane hatte jemanden lachen gehört.
Sie wusste einerseits, dass sie alles nur träumte, und so war es ihr vorgekommen, als würde sie sich selbst dabei beobachten, wie sie lachte und sie schüttelte darüber den Kopf; andererseits fühlte sie diesen trockenen Kloß in ihrem Hals, der ihr sagte, dass sie wohl gleich anfangen würde zu weinen, dass die Tränen kommen würden, und sie weinen würde.
Shane hätte gern die Hand ausgestreckt nach diesem Leben, welches sie einmal hatte, nach diesem Mädchen, das sie einmal gewesen war, die Laken wehten in einem warmen Wind; und die träumende Shane vermochte es sich kaum
vorzustellen, dass es einmal wieder Frühling werden könne, dass es einmal wieder so warm werden könne, dass die Mutter Laken und Handtücher in den Garten hängen werde, doch die Gewissheit, dass sie nie wieder das Mädchen sein
würde, welches sie einst einmal gewesen war, wog viel schwerer, und diese Gewissheit legte sich auf sie wie eine schwere, warme Decke.
Shane schluckte. Sie war auf dem Weg in die Schule, und sie würde jetzt auf keinen Fall anfangen zu heulen!
Nicht die Welt hat sich verändert, Shane, du hast dich verändert!
Shane kniff die Augen zusammen.
Sie war eine Andere, ja, und das Buch, welches sie gestern Nacht hastig und gierig durchblättert hatte, hatte etwas damit zu tun.
Sie fühlte sich mit ihm verbunden, mit jedem einzelnen Buchstaben, sie hatte auf das vergilbte Papier gestarrt und die Sätze in sich eingesogen, die sich lasen,
als hätte jemand ein fantastisches Abenteuer erlebt, das Abenteuer seines Lebens, nur dass es kein Abenteuer war, sondern Wirklichkeit.
All das war wirklich geschehen damals, und nun hatte sich eine andere Stimme in Shane gemeldet, eine neue Stimme, sie hatte sich durch die Fäden in ihrem Kopf gewühlt und gefragt: Und was hat er damals getan, Shane? Als er gemerkt hat, dass er ein Auge ist? Als er gemerkt hat, dass sein Leben sich dem Ende näherte, dass es bald keine Augen mehr geben würde? Als Krieg herrschte? Hat er gejammert und sich versteckt vor dem,
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