Shardik
von Feuern hoch, die von den Siegern entfacht wurden, um die erbeuteten Vorräte des Feindes zu kochen. Doch noch vor Mitternacht hinkte die von Zelda und Kelderek so eifrig vorwärtsgetriebene Armee, daß sie nicht einmal Zeit fand, ihre Toten zu begraben, weiter in Richtung Bekla; es galt, den Nachrichten von ihrem Sieg und der völligen Vernichtung von Gel-Ethlins Streitmacht zuvorzukommen.
Zwei Tage später erschienen die durch Müdigkeit und Entbehrungen bei ihrem Eilmarsch zu zwei Dritteln ihrer Stärke zusammengeschmolzenen Ortelganer, die über die gepflasterte Straße durch die Ebene herankamen, vor den Mauern von Bekla; sie zertrümmerten das geschnitzte und vergoldete Tamarriktor – jenes einzigartige Meisterwerk, das der Künstler Fleitil ein Jahrhundert zuvor geschaffen hatte –, nachdem sie es vier Stunden lang mit einem improvisierten Sturmbock berannt und fünfhundert Mann dabei verloren hatten, überwältigten die Besatzung und die Bürger trotz der tapferen Führung des kranken Santil-ke-Erketlis, plünderten und besetzten die Stadt und begannen sofort, die Befestigungen gegen die Gefahr eines Gegenangriffes zu verstärken, der nach Ende der Regenzeit zu erwarten war.
So fiel Bekla, die Hauptstadt eines 50 000 Quadratkilometer großen Reiches aus unterworfenen Provinzen, in einem der gewiß ungewöhnlichsten und unerwartetsten Feldzüge, die je durchgeführt wurden. Die von der Stadt am weitesten entfernten Provinzen sagten sich von Bekla los und wurden zu Feinden der neuen Herrscher. Die näher gelegenen stellten sich, um nicht der Plünderung und dem Blutvergießen des Widerstands anheimzufallen, lieber unter den Schutz der Ortelganer, ihrer Generäle Zelda und Ged-la-Dan sowie ihres geheimnisvollen Priesterkönigs Kelderek, genannt Crendrik – das göttliche Auge.
Dritter Teil • Bekla
24. Elleroth
Bekla, Stadt voll Mythos und Rätsel, geheimnisvoll verborgen in der Zeit wie Tiahuanaco in der Festung der Anden, wie Petra in den Hügeln Edoms, wie Atlantis unter den Wogen der See! Bekla, Rätsel und Geheimnis, tiefer umhüllt von religiösen Mysterien als Eleusis mit seinem reifen Korn, als die Steinriesen des Pazifik oder die Keraitländer des Priesterkönigs Johannes. Seine grauen, abgebrochenen Mauern – über deren Brustwehren nur die Wolken ziehen, in deren Höhlungen der Wind pfeift und erlischt, wie der Krakauer Trompeter oder die Memnonsäule auf dem Sand –, die in seinen Gewässern sich spiegelnden Sterne, die in seinen Gärten duftenden Blumen wurden zu Wörtern, die man in einem vergessenen Traum gehört hat. Sogar seine Geschichte liegt begraben, ungelöst – Münzen, Perlen und Spielbretter, Straßen über Straßen, Scherben über Scherben, Herde über Herden, Asche über Asche. Von Troja und Mykenä wurde die Erde abgetragen, von den Ruinen Simbabwes der Dschungel gerodet, und festgehalten in Landkarten und Verzierungen sind die schrecklichen Meilen rund um Urumtschi und Ulan-Bator. Wer aber wird das mondmatte Dunkel zerstreuen, das Bekla umgibt, oder es aus einsameren und entfernteren Tiefen als jene, wo Bassogigas und Ethusa in dunklem Schweigen schwimmen, zum Licht hervorziehen? Nur gelegentlich mag man sie durch Erzählungen erraten, jene Zeichen, rätselhaft wie die vor Jahrhunderten an Portugals und Spaniens Küsten getriebenen Holzschnitzereien aus dem amerikanischen Kontinent; oder vielleicht entdeckt man es in Träumen – vom Deck jener Flotte von Göttern und Bildern, die nachts unverändert vorbeisegelt und ihre Passagiere noch immer auf keinen anderen Boden bringt als den, der einstmals des Pilatus’ Weib, Joseph von Kanaan und die weise Penelope von Ithaka mit ihren zwanzig Gänsen trug. Bekla, die Unvergleichliche, die Lilie der Ebene, der Garten aus gehauenem und tanzendem Stein, taucht empor aus ihrem Dunst und Nebel, undeutlich wie die Fährte Shardiks in längst verschwundenen Wäldern.
Fast zehn Kilometer lang war die Stadtmauer, die im Süden zum Crandorberg und rund um die Zitadelle emporführte, die über dem steilen Abhang der darunterliegenden Steinbrüche hochragte. Über diesen Hang führte eine halsbrecherische Treppe nach oben, die in fünfundzwanzig Meter Höhe im Eingang eines Tunnels verschwand, der durch den Felsen hinaufführte und im Halbdunkel des riesigen Kornkellers endete. Der einzige andere Zugang zur Zitadelle war das sogenannte Rote Tor in der Südmauer, durch das ein eisenhaltiger Bach von seiner Quelle zu mehreren
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