Shardik
Wasserfällen – den sogenannten Weißen Mädchen – floß, die ihn über den langsam abfallenden Südhang des Crandor nach unten führten. Unter dem Roten Tor hatten Männer vor langer Zeit das Bachbett verbreitert und vertieft, aber einen halben Meter unter der Wasserfläche einen schmalen, gewundenen Dammweg aus rohem Felsgestein stehenlassen. Wer die Windungen dieses Unterwasserpfades kannte, vermochte ungefährdet durch den tiefen Teich zu waten und dann – wenn man es ihm gestattete – die Zitadelle über die als »der Kamin« bekannte Treppe zu betreten.
Was aber den Blick des Neuankömmlings in Bekla anzog, war nicht der Crandor, sondern der Kamm des unterhalb davon gelegenen Leopardenhügels mit seinen Reben-, Blumen- und Zitrus-Tendriona-Terrassen. Über diesen ihn umgebenden Gärten, auf der Spitze, stand der Palast der Barone, an dessen Türmen sich das Licht in dem polierten rosafarbenen Marmor der Balkone spiegelte. Es waren alles in allem zwanzig Türme, je acht an den Längs- und vier an den Schmalseiten; die sich verjüngenden, kreisrunden Mauern waren so glatt und regelmäßig, daß im Sonnenschein kein einziger Stein einen Schatten auf den darunter liegenden warf und die einzigen dunklen Stellen von den angerundeten und schlüssellochartig eingeschnittenen Fensteröffnungen gebildet wurden, welche die Wendeltreppe erleuchteten. Hoch oben, in Wipfelhöhe großer Bäume, sprangen Balkone vor wie Säulenkapitäle, deren Wandelgänge breit genug waren, daß zwei Männer nebeneinander gehen konnten. Die Marmorbrüstungen waren in Höhe und Form gleich, jedoch verschieden, beidseitig in Basrelief behauen, mit Leoparden, Lilien, Vögeln oder Fischen verziert. So konnte ein Baron zu seinem Freunde sagen: »Heute abend will ich mit dir auf dem Bramaturm trinken«, oder ein Liebhaber zu seiner Dame: »Wir wollen uns heute abend auf dem Trepsisturm treffen und vor dem Abendessen den Sonnenuntergang betrachten.« Oberhalb dieser wundervollen Krähennester gipfelten die Türme in schlanken, bemalten – rot, blau und grün –, durchbrochenen Turmspitzen, in denen Kupferglocken mit Gongton aufgehängt waren. Wenn sie geläutet wurden – vier Glocken für jeden Ton der Skala –, vermengten sich die metallischen, schwingenden Klänge mit ihrem eigenen Echo von den Felswänden des Crandor und vibrierten über den Dächern, bis die damit zu den Freuden eines Festes, Feiertags oder königlichen Empfangs geladenen Bürger lachten, weil ihre Ohren zum Spaß getäuscht wurden, wie das Auge durch einander gegenüberstehende Spiegel.
Der Palast selbst stand innerhalb seiner Türme und einige Meter von deren Grundflächen getrennt. Doch – es war ein wunderschöner Anblick – der hinter jedem Turm stehende Teil der Mauer war in Dachhöhe nach außen abgeschrägt, gestützt von massiven Konsolen, die ihn umfaßten und ein wenig vorragten, so daß die Türme selbst mit ihren spitzen Helmen wie in regelmäßigen Abständen aufgestellte, große Lanzen aussahen, die das Dach trugen gleich einem am Rand gestützten Thronhimmel. Die spiralförmigen Brustwehren waren reliefartig mit runden Blättern und flammenförmigen Blumenknospen von Lilien und Lotos verziert; dazu hatten die Künstler, da und dort nach Gutdünken, mehrfach vergrößerte Abbildungen von Insekten, von wuchernden Ranken und Wassertropfen hinzugefügt. Das grelle Mittagslicht hob nur wenig von diesen phantasievollen Formen hervor, es betonte eher die einfache, beschattete Masse der Nordfront, die ernst und streng wie ein Richter oberhalb der geschäftigen Straßen thronte. Abends aber, wenn die Tageshitze vorbei war und die scharfen Schatten verschwanden, milderte das rote, schräg einfallende Licht die Mauer- und Turmkonturen und betonte statt dessen ihre prächtige Verzierung, so daß dann der Palast an eine schöne, lebenslustige, mit Juwelen und Blumen geschmückte Frau erinnerte, die für eine fröhliche Begegnung oder Heimkehr festlich zurechtgemacht war. Und beim ersten Tageslicht, bevor die Gongs der zwei Wasseruhren in der Stadt nacheinander zum Sonnenaufgang schlugen, war es wieder anders und glich in der dunstigen Stille einem Teich mit halbgeöffneten Wasserlilien unter Libellen und Wasser nippenden, platschenden Schwalben.
In einiger Entfernung vom Fuß des Leopardenhügels lag die neu ausgegrabene Felsenhöhle, und unmittelbar darüber stand das Haus des Königs, ein öder Quader mit um eine Halle angeordneten Räumen und Korridoren
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