Shardik
sei denn, er wollte seine schwer erworbene Erfahrung dazu rechnen. Obwohl er selbst enttäuscht war, schien Melathys, nach ihren Worten zu schließen, es nicht zu sein. Es war auch ganz klar, daß die Tuginda sie als geheilt oder wiedergewonnen betrachtete – wenn diese Ausdrücke etwas bedeuteten –, in einem Sinne, der sich auf ihn nicht anwenden ließ. Wahrscheinlich, dachte er, weil Melathys sie um Vergebung gebeten hatte. Warum war er außerstande gewesen, das zu tun?
Es würde bald dunkel sein. Noch tief in Gedanken versunken, ließ er die Frauen allein und ging in den Hof hinaus, um auf Ankray zu warten.
Er stand an die verriegelte Tür gelehnt und horchte, ob er jemanden kommen hörte, dabei überlegte er, ob er nicht wieder auf das Dach klettern sollte; als er hinaufblickte, sah er Melathys auf der Schwelle stehen. Das flammende Abendlicht beleuchtete sie von Kopf bis Fuß und ließ ihr herabfallendes Haar als ebenmäßig schimmernden Schatten wie ein geschwungenes Wellental erscheinen. Wie ein Mann, der stehenblieb, um einen Regenbogen anzusehen, seinen Weg fortsetzt, dann aber sich umdreht, um ihn nochmals zu sehen, und sofort wieder von seiner Herrlichkeit bezaubert ist, so wurde Kelderek von Melathys’ Anblick bewegt. Gebannt durch seinen starren Blick, erfaßte das Mädchen gewissermaßen ihr eigenes Echo in seinen Augen und stand leise lächelnd still, wie um ihm zu sagen, daß sie ihm gern den Gefallen ließ, bis er sich imstande fände, sie aus der Fessel seines Blicks freizugeben.
»Rühr dich nicht«, sagte er, zugleich werbend und bittend, und sie zeigte weder Verwirrung noch Verlegenheit, sondern eine fröhliche, spontane und bescheidene Würde wie die einer Tänzerin. Plötzlich sah er sie in seiner Einbildung, so wie ihm damals in der Halle des Königlichen Hauses in Bekla, als er darauf gewartet hatte, daß die Soldaten Elleroth brachten, Shardik als Bär und zugleich als ferner Berggipfel erschienen war, als den hohen Zoanbaum am Ufer von Ortelga – ein Grenzbaum mit Farnblätterästen am Flußufer. Ohne den Blick von ihr zu wenden, durchquerte er den Hof.
»Was siehst du?« fragte Melathys und blickte lachend zu ihm auf; und Kelderek, der sich der Macht der Priesterinnen auf Quiso entsann, fragte sich, ob sie selbst das Bild des Zoanbaums in seine Vorstellung gezaubert hatte.
»Einen hohen Baum am Fluß«, antwortete er. »Eine Landmarke für den Heimkehrer.«
Er faßte ihre Hände und hob sie an die Lippen. Im selben Augenblick klopfte jemand heftig, dringend an die Hoftür. Darauf folgte ein häßliches Hohngelächter, dann ertönte Ankrays Stimme: »Nun aber fort von hier und rasch!«
47. Ankrays Nachricht
Kelderek ergriff den Speer, lief zur Tür und schob die Riegel zurück, und Ankray, das bloße Schwert in der Faust, duckte sich und trat rückwärts in den Hof; Kelderek schloß die Tür, und Ankray nahm den Sack von der Schulter.
»Hoffentlich ist alles wohlauf, Herr, bei dir und den Priesterinnen«, sagte er, zog den Spieß aus seinem Gürtel und setzte sich auf die Deckplatte des Brunnens, um seine schmutzigen hohen Gamaschen auszuziehen. »Ich tat mein Bestes, um möglichst schnell zurückzukommen, aber es ist ein beträchtliches Stück Weg über das unwirtliche Land.«
Kelderek konnte nicht sofort Worte finden und nickte bloß, dann legte er dem braven Kerl, der um ihretwillen sein Leben riskiert hatte und dem er nicht unhöflich erscheinen wollte, eine Hand auf die Schulter und lächelte.
»Nein, hier hat es keine Schwierigkeiten gegeben«, sagte er.
»Komm hinein, wasch dich und trink etwas zur Erfrischung. Laß mich deinen Sack nehmen – ja gut. Bei Gott, der ist schwer! Du hast also Erfolg gehabt, wie?«
»Also, ja und nein, Herr«, antwortete Ankray, bückte sich und trat durch die Türöffnung. »Ich konnte allerdings einiges bekommen. Ich habe frisches Fleisch, vielleicht will die Priesterin heute abend ein Stück essen.«
»Ich werde es kochen«, sagte Melathys. Sie brachte eine Schüssel mit warmem Wasser, stellte sie auf den Boden und preßte Kräuter hinein. »Du hast genug getan für einen Tag. Nein, Ankray, sei nicht albern, natürlich werde ich dir die Füße waschen. Ich will sie mir ansehen. Ah, da ist ja eine Wunde. Halt still!«
»Da sind drei volle Weinschläuche in dem Sack«, sagte Kelderek, der hineinsah, »außerdem das Fleisch, zwei Käse und einige Brotlaibe. Da ist auch Öl, und was ist das – Speck? Und Leder. Du mußt stark
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