Shardik
küßte sie ihn sanft, mehrmals, dann legte sie ihren Kopf an seine Schulter. »Liebster. Mein Herz ist dein, bis die Sonne ausgebrannt ist. Ach, gab es jemals einen so traurigen Ort und eine so unglückselige Stunde für eine Liebeserklärung?«
»Wie denn?« fragte er. »Wie denn sollten zwei Menschen wie wir einander als Liebende erkennen, wenn nicht am Ende der Welt, wo aller Stolz dahin ist und Rang und Stand zerstört sind?«
»Ich werde mich Hoffnung lehren«, sagte sie. »Ich werde jeden Tag, an dem du fort sein wirst, für dich beten. Nur schicke mir Nachricht, sobald du kannst.«
»Fort?« fragte er. »Wo denn?«
»Nun, in Lak, bei unserem Herrn Shardik, wo sonst?«
»Mein Lieb«, sagte er, »mach dir keine Sorgen. Ich versprach dir, ich würde dich nie verlassen. Mit Shardik bin ich fertig.«
Da trat sie zurück, breitete beide Arme weit hinter sich aus, stützte die Handflächen an die Wand und blickte ungläubig zu ihm auf.
»Aber – aber du hast doch gehört, was Ankray sagte – wir alle haben ihn gehört! Unser Herr Shardik hält sich im Wald bei Lak auf – verwundet – vielleicht sterbend! Oder glaubst du nicht, daß es unser Herr Shardik ist?«
»Einstmals – ja, und es ist noch nicht lange her – wollte ich den Tod durch Shardik suchen als Sühne für das Böse, das ich ihm und der Tuginda zugefügt habe. Aber jetzt habe ich die Absicht, für dich zu leben, wenn du mich haben willst. Hör mich an, Liebste. Shardiks Zeit ist für immer vorbei und, soviel ich weiß, auch die Zeit Beklas und Ortelgas. Diese Dinge sollten uns jetzt nicht mehr berühren. Unsere Aufgabe ist es, unser Leben zu bewahren – das Leben der Menschen hier im Hause –, bis wir nach Lak gehen und dann der Tuginda zu einer sicheren Rückkehr nach Quiso verhelfen können. Dann werden wir beide, du und ich, frei sein! Ich werde dich mitnehmen: wir gehen nach Deelguy oder Terekenalt – noch weiter fort, wenn du willst, irgendwohin, wo wir ein stilles, bescheidenes Leben führen können als die einfachen Menschen, als welche wir geboren wurden. Vielleicht wird Ankray mit uns kommen. Wenn wir nur fest entschlossen sind, wird uns die Chance geboten werden, endlich glücklich zu sein, fern von Lasten, für die der menschliche Geist nie geschaffen wurde, und von Mysterien, in die er keine Einsicht haben sollte.«
Sie schüttelte nur trübselig den Kopf, die Tränen tropften immerfort aus ihren Augen.
»Nein«, flüsterte sie, »nein. Du mußt dich morgen bei Tagesanbruch auf den Weg nach Lak machen, und ich muß hier bei der Tuginda bleiben.«
»Aber was soll ich denn tun?«
»Das wird dir offenbart werden. Vor allem aber mußt du ein demütiges, aufnahmewilliges Herz bewahren und die Bereitschaft, zu hören und zu gehorchen.«
»Es ist nichts als Aberglaube und Wahnsinn!« rief er aus. »Wie kann gerade ich noch weiter Shardiks Diener bleiben – ich, der ich ihn mehr als jeder andere gekränkt und ihm Schaden zugefügt habe, sogar noch mehr als Ta-Kominion? Denke nur an die Gefahr für dich und die Tuginda, wenn ihr allein mit Ankray hier bleibt! Es wimmelt jetzt in dem Ort von Gefahren. Es kann jeden Augenblick so sein, als würden fünfzig Glabrons aus dem Grab auferstehen – «
Sie schrie laut auf, sank bitterlich schluchzend zu Boden und bedeckte ihr Gesicht mit den Armen, als wolle sie sich vor seinen unerträglichen Worten schützen. Sie tat ihm leid, er kniete neben ihr nieder, streichelte ihre Schultern, sprach ihr Trost zu wie einem Kind und versuchte, ihr hochzuhelfen. Nach einiger Zeit erhob sie sich und nickte mit einer Art müder Hoffnungslosigkeit, alle wolle sie gelten lassen, was er über Glabron gesagt hatte.
»Ich weiß«, sagte sie, »ich bin krank vor Angst beim Gedanken an Zeray. Ich könnte das nie wieder überleben – jetzt nicht mehr. Dennoch mußt du fortgehen.« Plötzlich schien sie Mut zu fassen, gleichsam durch einen Zwang aus eigenem Willen. »Du wirst nicht lange allein bleiben. Die Tuginda wird gesund werden, und dann kommen wir zu dir nach Lak. Ich glaube daran! Ich glaube daran! Ach, mein Liebster, wie ich mich danach sehne – wie ich für dich beten werde! Gottes Wille geschehe!«
»Ich sage dir, Melathys, ich gehe nicht fort. Ich liebe dich. Ich werde dich nicht hier lassen.«
»Wir beide haben unseren Herrn Shardik einmal enttäuscht«, sagte sie, »aber wir werden es nicht wieder tun – jetzt nicht. Er bietet uns beiden Wiedergutmachung, und wir werden sie annehmen,
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